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Solidarität. In New York demonstrieren Exil-Tibeter und Unterstützer.

© REUTERS

Tibet: „Jeder sollte seinen eigenen Weg gehen dürfen“

Die tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser über Selbstverbrennungen verzweifelter Landsleute und Erwartungen an Peking.

Wie viele Tibeter haben sich im Jahr 2012 aus Protest gegen China selbst verbrannt?

Es gab über 80 Selbstverbrennungen. Die meisten im November, als 28 Tibeter auf diese Weise protestiert haben. Sie wollten während des 18. Parteitages der KP Chinas Widerstand zeigen.

Seit 2009 haben sich damit beinahe 100 Tibeter selbst angezündet. Wer unternimmt so einen verzweifelten Protest?

Tsering Woeser (46) ist Schriftstellerin und Bloggerin. 2009 erschien ihr Buch über die tibetischen Proteste : „Ihr habt Gewehre, ich einen Stift“.
Tsering Woeser (46) ist Schriftstellerin und Bloggerin. 2009 erschien ihr Buch über die tibetischen Proteste : „Ihr habt Gewehre, ich einen Stift“.

© promo

Der Älteste war 64 Jahre alt, der Jüngste 15. Die meisten sind junge Menschen. Am Anfang waren es zumeist Mönche und Nonnen, aber jetzt sind auch viele Bauern, Hirten, Studenten und andere gewöhnliche Menschen aus unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft dabei. Die Kommunistische Partei Chinas sagt, die jungen Menschen seien verhext, tatsächlich aber stellen weltweit in jedem Land junge Menschen die Mehrheit unter den Protestierenden.

Warum ist die Zahl der Selbstverbrennungen in den tibetischen Gebieten Chinas so stark gestiegen?

Proteste und Demonstrationen hat es zuvor in Tibet selten gegeben, egal ob vor 1949 oder nachdem Chinas Kommunistische Partei die Macht in Tibet übernommen hat. Also, warum sind es so viele seit 2009? Tatsächlich sind sie eine Fortführung der Proteste von 2008. Dieser Massenprotest wurde unterdrückt, Tibeter wurden festgenommen und getötet. Danach haben die Proteste nie mehr aufgehört, nur sind es nun individuelle Proteste anstelle von Gruppenprotesten. Es gibt viele Arten zu protestieren.

Chinas Polizei hat unlängst einen Tibeter festgenommen, der andere zur Selbstverbrennung angestiftet haben soll. Außerdem erklärt China, der Dalai Lama stecke hinter den Selbstverbrennungen. Tatsächlich aber hat sich das geistige Oberhaupt der Tibeter im Exil öffentlich dagegen ausgesprochen. Warum folgen die jungen Mönche und Nonnen seinem Rat nicht?

Es ist undenkbar, dass der Dalai Lama die Tibeter dazu auffordert, nicht mehr zu protestieren. Aber er und viele andere, darunter ich selber, appellieren an die Menschen, sie mögen sorgsam mit ihrem Leben umgehen. Es sieht aber so aus, als seien diese Appelle nicht wirkungsvoll.

Warum?

Weil jeder die Verantwortung und auch die Verpflichtung hat, seinen Widerspruch auszudrücken. Jeder Tibeter wählt dazu seinen eigenen Weg. Diese fast 100 Tibeter haben den stärksten und entsetzlichsten Weg gewählt.

Was könnte Tibeter in Zukunft davon abhalten, sich weiter anzuzünden?

Das ist ein sehr kompliziertes Thema. Erstens kann man sie nicht kritisieren und sagen: „Ihr habt etwas falsch gemacht.“ Gleichzeitig sind Selbstverbrennungen etwas Schreckliches. Es ist sehr schwierig für die Menschen, die sich selbst verbrennen, zu so einer Entscheidung zu kommen. Ich sammle seit Jahren ihre letzten Worte. Manche fordern Freiheit und Unabhängigkeit für Tibet, manche fordern Aufmerksamkeit für das tibetische Volk und vieles mehr. Die Selbstverbrennungen haben viele Bedeutungen.

Welche Tibet-Politik erwarten Sie von der neuen chinesischen Führung um den neuen Parteichef Xi Jinping?

Ich hoffe, dass es ein paar Veränderungen gibt. Die Behörden sind auch gar nicht mehr in der Lage, noch mehr Druck auszuüben. Lhasa ist zurzeit wie ein Gefängnis. Wenn die Politik des harten Drucks weitergeführt wird, wird das die chinesische Regierung noch mehr Investitionen und noch mehr Einsatz kosten.

Wie sähe Ihre Lösung aus?

Jedem sollte erlaubt sein, seinen eigenen Weg zu gehen.

Wie optimistisch sind Sie?

Ehrlich gesagt, überhaupt nicht. Es ist die gleiche Situation wie 2002 zu Beginn der Amtszeit von Staatschef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao. Da haben auch alle Menschen erwartet, sie würden etwas ändern. Stattdessen war es faktisch die bisher härteste Amtszeit für Tibet. Selbst wenn der neue Parteichef Xi Jinping seine eigene Meinung zu diesem Thema hat, macht der Status quo in China die Dinge sehr schwierig.

Was ist denn der Status quo?

Von der Zentralregierung bis zu den lokalen Regierungen sind in ganz China alle Beamten sehr zufrieden damit, die großen Gewinne untereinander aufzuteilen, die sie für ihre Arbeit zur „Bewahrung der Stabilität“ erhalten. Deshalb wird jede Veränderung des aktuellen Systems auf große Widerstände stoßen. Außerdem ist zuletzt eine neue Empfehlung veröffentlicht worden, wie mit den tibetischen Selbstverbrennungen umzugehen ist …

… eine Empfehlung des Obersten Volksgerichts, der Obersten Staatsanwaltschaft und des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit …

… diese neue Empfehlung geht sehr harsch mit den Selbstverbrennungen um. Sie schlägt sogar vor, dass auch diejenigen, die sich selber verbrannt haben, strafrechtliche Maßnahmen befürchten müssen. Es gibt im Moment 14 Überlebende unter denjenigen, die sich selber verbrannt haben. Was wird mit ihnen passieren, da sie nun unter Kontrolle der Behörden stehen? Werden sie verurteilt? Falls ja, wird das sehr schrecklich sein.

Hilft es den Tibetern vielleicht, dass Xi Jinpings Vater den Dalai Lama kannte und eine persönliche Beziehung zu ihm hatte?

Dieser Fakt ist übertrieben worden. Niemand weiß wirklich, wie gut der Kontakt zwischen Xi Zhongxun und dem Dalai Lama war. Letzten Endes war Xi Zhongxun ein Parteimitglied zu Maos Zeiten. Hat er die Rolle des guten Polizisten gespielt? Ich habe gehört, dass es während des Befreiungskrieges einen tibetischen Führer gab, der im tibetischen Gebiet von Qinghai große militärische Stärke besaß. Die Volksbefreiungsarmee konnte ihn damals nicht bezwingen. Xi Zhongxun wurde als Vermittler zu ihm geschickt und machte alle möglichen Versprechungen für ihn und seine Anhänger. Der tibetische Führer gab später auf – und endete doch in einem Gefängnis der Partei.

Warum mussten Sie Peking während des Parteikongresses im November wie viele andere Dissidenten und Aktivisten verlassen?

Ich war eine der Personen, die in Peking alles andere als willkommen waren. Die Behörden mussten uns während des Parteitages aus Peking herauswerfen, um zu verhindern, dass wir mit Medien wie dem Tagesspiegel sprechen. Andernfalls wären sie stinksauer gewesen.

Sie mussten zurück in ihre Heimatstadt Lhasa, die Hauptstadt Tibets.

Wir sind zu fünft zurück nach Tibet gefahren. Inklusive meines Ehemanns waren alle Han-Chinesen – außer mir. Als wir nach Lhasa kamen, wurde unser Auto am Sicherheitscheckpoint gestoppt, und sie haben unsere Personalausweise geprüft. Dann haben sie nur mir verboten, Lhasa zu betreten. Hintergrund ist eine neue Richtlinie, wonach kein Tibeter, der nicht in Lhasa wohnt, nach Lhasa hineindarf.

Wie erging es Ihnen in Lhasa?

Als ich zurück nach Peking fahren wollte, kamen Beamte der Nationalen Sicherheitsbehörde und sprachen mit mir an der Zugstation. Sie warnten mich höflich, dass all meine Bewegungen unter ihrer Beobachtung stünden, und dass das, was ich sage, nicht wahr sei. Ich solle nicht die Fakten über Tibet verdrehen. Tibet sei in einer guten Situation und sehr stabil. Sie waren sehr nett zu mir, sie sagten, sie wollten friedlich mit mir reden, sie sagten, dass sie menschlich seien. Sie haben sogar mein Gepäck getragen.

Wie ist die Lage in Lhasa gegenwärtig?

Sehr angespannt. Die Sicherheitskräfte sind überall, auch in den Parks und Tempeln. Wenn Tibeter zum Beten in Tempel gehen, werden sie kontrolliert, müssen ihre Personalausweise zeigen und sich durchsuchen lassen. Das ist eine Erniedrigung für die Tibeter.

Wie ist das Leben auf der Straße?

Auf Märkten und in den Einkaufszentren ist es wie immer. Aber es beten jetzt viel weniger Menschen in den Tempeln.

Was ist mit buddhistischen Pilgern passiert, die einmal in ihrem Leben die traditionelle Pilgerreise nach Lhasa unternehmen wollen?

Normalerweise kann man im Winter viele Bauern und Hirten sehen, die ihre Pilgerreise nach der Erntesaison beginnen. Aber jetzt sind keine Pilger auf dem Weg.

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