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Politik: Tiefer Graben durch den UNO-Sicherheitsrat

Die Staatengemeinschaft zeigt sich so zerstritten wie schon lange nicht mehr.Der UNO-Weltsicherheitsrat beendete am Donnerstag seine Beratungen, ohne sich auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen zu können.

Die Staatengemeinschaft zeigt sich so zerstritten wie schon lange nicht mehr.Der UNO-Weltsicherheitsrat beendete am Donnerstag seine Beratungen, ohne sich auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen zu können.Derweil die USA Rußlands Proteste gegen die NATO-Schläge mit der Aussicht auf Wirtschaftshilfe zu beschwichtigen versuchen, setzt Rußland jegliche Zusammenarbeit mit der Nordatlantischen Allianz aus und beruft seinen ständigen NATO-Vertreter ab.

Wochenlang hatte der Weltsicherheitsrat, als die NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien immer unausweichlicher wurden, beharrlich geschwiegen und sich mit anderen Themen befaßt.Nach den ersten Meldungen über den Start der Bomber dauerte es nur eine Stunde, bis das höchste UNO-Gremium auf den schon vorsorglich gestellten Antrag Rußlands hin zusammentrat.

Dabei zeigte sich sofort, daß der Graben durch den Sicherheitsrat tief geworden ist - vielleicht überhaupt nicht mehr überbrückt werden kann.Die drei NATO-Staaten unter den fünf ständigen Mitgliedern - die USA, Großbritannien und Frankreich - verteidigen die Angriffe als notwendig zur Abwehr einer noch schlimmeren Katastrophe.Rußland und China, die beiden anderen "großen Mächte", verurteilen die Aktion als illegal und destabilisierend für den Weltfrieden.Erfahrene UNO-Diplomaten sind bereits überzeugt, daß die Auseinandersetzung in ihrem Ausmaß und in ihrer Form das Ende der Zusammenarbeit bedeutet, die im vergangenen Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Renaissance der Vereinten Nationen gefeiert worden war.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan zeigte sich selbst hin- und hergerissen in seiner Beurteilung: Er "bedauerte" die Zurückweisung einer politischen Lösung durch die jugoslawischen Machthaber."Tragisch" sei es, daß die Diplomatie versagt habe - "aber es gibt Zeiten, in denen die Anwendung von Gewalt beim Bemühen um den Frieden legitim sein kann." Dann aber bekräftigte er seine Überzeugung, daß der Weltsicherheitsrat "die erste Verantwortung" für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit habe.Deshalb solle er an jeder Entscheidung zum Einsatz von Gewalt beteiligt sein.

Der Sicherheitsrat schloß seine Beratungen, die zur scharfen Auseinandersetzung wurden, ohne irgendeine gemeinsame Stellungnahme ab.Der jugoslawische UNO-Vertreter Vladislav Jovanovic verwarf das Vorgehen der NATO vor dem höchsten UNO-Gremium in New York als "brutal" und "kriminell".Die USA und ihre Verbündeten gingen über die Proteste Rußlands und Chinas in New York höflich hinweg.Die UNO habe genug Gelegenheit gehabt, sich zur Kosovo-Krise zu äußern, sagte US-Außenministerin Madeleine Albright in einem Fernsehinterview freundlich, aber bestimmt."Ich glaube, wir tun das Richtige." Rußland sei über jeden Schritt der NATO informiert worden.Albright fiel die Aufgabe zu, hinter den Kulissen zu beschwichtigen - und die NATO-Alliierten auf Linie zu halten.Ein Trostpflaster für Moskau könnte die Freigabe der seit einem halben Jahr eingefrorenen Wirtschaftshilfe sein.Über die IWF-Kredite hatte US-Vizepräsident Al Gore eigentlich diese Woche mit dem russischen Präsidenten Primakow sprechen wollen.Nun wird IWF-Direktor Michel Camdessus am Wochenende zu Gesprächen in Moskau erwartet.

Als den gröbsten Fehler der US-Diplomatie und Clintons persönlich hat Boris Jelzin den Beginn der Bombenangriffe gegen Jugoslawien bezeichnet.In einer Erklärung des Kremlchefs hieß es weiter, bei einer Eskalation des Konfliktes behalte Moskau sich im Interesse der eigenen und der europäischen Sicherheit weitere Maßnahmen vor, darunter auch militärische."Rußland verfügt auch über äußerste Mittel.Doch die werden wir nicht anwenden, weil dies unser Gewissen verbietet", sagte Jelzin am Donnerstag dem Staatsfernsehen.

Bereits in der vorigen Nacht hatte Jelzin dem Verteidigungsministerium Ordre erteilt, jegliche Zusammenarbeit mit der Nordatlantischen Allianz auszusetzen.Insgesamt 21 gemeinsame Manöver im Rahmen des Programms "Partnerschaft für den Frieden" und der Charta Rußland-NATO wurden bereits abgesagt.Gleichzeitig berief Boris Jelzin den Ständigen Vertreter Rußlands bei der NATO, General Viktor Sawarsin, ab.Auch die Verhandlungen über die Eröffnung einer NATO-Mission in Moskau werden eingestellt.

Es gäbe ein traditionelles Arsenal von Maßnahmen, die sich aus russischer Sicht bereits bei anderen "Auslandseinsätzen" der US-Army bewährt hätten, sagte der Leiter der Abteilung für internationale militärische Zusammenarbeit im russischen Verteidigungsministerium, Leonid Iwaschow.Dazu zähle erhöhte Alarmbereitschaft der Streitkräfte und die Auffüllung der Einheiten auf Sollstärke.Zudem könnte Moskau aus den Abkommen aussteigen, die das russische Friedenskontingent in Bosnien dem NATO-Oberbefehl unterstellen.

Auch die prokommunistische Duma will morgen auf einer Sondersitzung, bei der Regierungschef Jewgenij Primakow und Außenminister Igor Iwanow einen Vortrag über die Situation auf dem Balkan halten sollen, Gegenmaßnahmen Rußlands erörtern.KP-Chef Gennadij Sjuganow erklärte bereits, seine Fraktion werde eine Vorlage zur Abstimmung bringen, mit der Rußland seinen Verzicht auf einen atomaren Erstschlag aufkündigt.

Von einer "riesigen Gefahr für die Stabilität und den Fortbestand der Weltordnung, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach dem kalten Krieg herausgebildet hat", sprach Jewgenij Primakow auf einer Kabinettssitzung am gestrigen Vormittag.Eine Abkapselung Rußlands schloß Primakow aus: "Nur, wenn Rußland sich als organischer Teil der Weltwirtschaft und der internationalen Politik versteht, kann gewahrt bleiben, was nach dem Ende des kalten Krieges erreicht wurde."

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