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Politik: Toleranz für Intoleranz

Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nehmen zu – zwei Drittel der Deutschen wollen einen Schlussstrich unter die Vergangenheit

Das Klima wandelt sich – wenig, aber spürbar. Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus haben im Vergleich zum Vorjahr leicht zugenommen, wie eine neue Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung zeigt. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, der die Langzeitstudie leitet, warnte am Donnerstag davor, dass sich die Grenzen dessen verschieben, was die Gesellschaft akzeptiert: „Solche verschobenen Normalitäten werden von der Bevölkerung oft gar nicht wahrgenommen.“

36,3 Prozent der Deutschen sind fremdenfeindlich, eine antisemitische Grundhaltung lassen 14,6 Prozent erkennen. Und etwa jeder Dritte – deutlich mehr als 2002 – äußerte sich negativ über Homosexuelle, Behinderte und Obdachlose. Die Soziologen sprechen daher von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Deren Elemente hingen eng zusammen, sagte Heitmeyer. So hielt der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann nicht nur eine antisemitische Rede, sondern kritisierte bei anderer Gelegenheit den angeblichen „Gruppenegoismus der Homosexuellenlobby“. Das, was als feindselige Haltung gegen eine Minderheit beginnt, kann sich zudem auf immer mehr Gruppen ausdehnen.

Die Studie, die unter dem Titel „Deutsche Zustände“ veröffentlicht wurde, erschien pünktlich zur Debatte des Bundestages über Antisemitismus, den die Abgeordneten einstimmig verurteilten. Antisemitische Ressentiments entwickelten weiter eine „fatale Wirkung“, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. In der Umfrage stieß der latente Antisemitismus bei den Befragten auf viel Zustimmung: 23,4 Prozent glaubten, dass Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten. Fast jeder Sechste war der Ansicht, dass die Juden durch ihr Verhalten an ihren Verfolgungen mitschuldig seien. Und sogar 54,5 Prozent meinten, viele Juden versuchten heute aus der Vergangenheit einen Vorteil zu ziehen. Für einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit fand sich eine noch größere Mehrheit: 69,9 Prozent ärgerten sich darüber, „dass den Deutschen heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“.

Doch worin liegen die Ursachen für die wachsenden Ressentiments gegenüber Minderheiten? „Dieses Syndrom verstärkt sich in einer Phase tiefer Reformverunsicherung“, sagte Thierse. Auch die Studie nennt als Grund die soziale Verunsicherung. So hat heute jeder Dritte Angst vor Arbeitslosigkeit. Gestiegen ist zugleich die Aggressivität: Jeder Fünfte ist bereit, zur Durchsetzung seiner Interessen Gewalt anzuwenden.

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