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Feuchte Augen hatte Wladimir Putin bei der Siegesfeier – das lag nur am Wind, behauptete er später. Foto: Reuters

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Politik: Tränen für Russland

Putin zeigt sich bereit zum Dialog – doch die Opposition demonstriert und plant weitere Proteste. Und der Milliardär Prochorow will eine eigene Partei.

„ Irgendwann wird die Sonne auch durch die dunkelsten Wolken brechen“ –Altrocker Juri Schewtschuk röhrte zum Abschluss des Protestmeetings der außerparlamentarischen Opposition am Montagabend auf dem Puschkin-Platz in Moskau aus hoffnungslos übersteuerten Boxen. Schon bei früheren Meetings waren die Redner nur in unmittelbarer Nähe zu verstehen. Auch deshalb fielen die Statements kurz aus wie bei Twitter.

„Wer ist die Macht“, fragte der kritischen Blogger Alexei Nawalny die Menge gleich dreimal. Dreimal dröhnte ein „wir“ über den Platz. Wahlen, hatte sich Nawalny schon am Vorabend empört, könne man die Abstimmung über den russischen Präsidenten kaum nennen, es habe mehr Verstöße als bei den umstrittenen Parlamentswahlen im Dezember gegeben. Internationale Beobachter sahen das ähnlich. Auch diesmal, rügten Vertreter von OSZE und Europarat, hätte es keine Chancengleichheit für die Kandidaten gegeben. Webcams in den Wahllokalen und gläserne Urnen seien keine Garantie für eine faire Abstimmung. Beanstandungen gab es auch zur Stimmauszählung in einem Drittel der Wahllokale. Für Putin, behauptet die auf Wahlmonitoring spezialisierte nichtstaatliche Organisation Golos, hätten nur knapp über 50 Prozent gestimmt.

So fordert die Protestbewegung weiter neue Parlaments- und Präsidentenwahlen. Auch der Multimilliardär Michail Prochorow, bei der Abstimmung überraschend Dritter, will das. Er werde eine Partei gründen, um die Macht kämpfen und für freie und faire Wahlen sorgen, bei den denen die Bürger ohne Angst an die Urnen gehen können, kündigte Prochorow unter tosendem Applaus auf der Protestkundgebung an. Er werde aus Russland ein Land machen, auf das die Menschen stolz sein könnten.

Doch soweit ist es noch nicht. „Wir müssen“, mahnte Grigori Jawlinski, einer der Gründer der sozialliberalen Jabloko-Partei und bei den Präsidentenwahlen von der Wahlkommission mit fadenscheinigen Vorwänden aus dem Rennen genommen, „eine Alternative zum Regime schaffen. Wir haben eigene Führer, ein eigenes Programm und vor allem sind wir eine moralische Alternative.“ Noch deutlicher wurde Jawlinskis Freund Sergei Mitrochin, derzeit Jabloko-Chef. Wahlsieger Wladimir Putin habe die Macht usurpiert und Russland damit diskreditiert. „Ja, Putin hat gesiegt“, sagte er. „Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Aber er hat uns in einem unfairen, widerlichen und feigen Kampf besiegt“. Putin habe der Opposition den Fehdehandschuh hingeworfen. „Schande“ skandierte der Platz. Die Veranstalter selbst sprachen von bis zu 20 000 Teilnehmern, die Polizei ging von höchstens 14 000 aus. Vesti 24, der staatliche TV-Nachrichtenkanal, übernahm die offiziellen Zahlen und berichtete über das Meeting nach den Berichten über die schwächer besuchte Kundgebung der KP und die Veranstaltungen von Putins Fanclub. Immer wieder blendeten die Macher dabei auch die Bilder von Sonntagabend ein, als Putin seinen Wählern mit tränennassem Gesicht dankte.

Laut vorläufigem Ergebnis, das die Wahlkommission am Montag nach Auszählung von 99,3 Prozent der Stimmen bekannt gab, stimmten 63,7 Prozent für Putin. In den Hochburgen der Protestbewegung – Moskau und Putins Heimatstadt St. Petersburg – waren es allerdings nur 47 und 58 Prozent. Der Zweitplatzierte – KP-Chef Gennadi Sjuganow – sammelte 17,2 Prozent ein. Prochorow kam auf 7,8 Prozent. Der Nationalist Wladimir Schirinowski landete mit 6,2 Prozent auf Platz vier, Sergei Mironow, Chef der Mitte-Links-Partei „Gerechtes Russland“ wurde Schlusslicht mit 3,8 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 65,3 Prozent.

Experten streiten derweil, wie es weitergeht in Russland. Putin, glaubt der Petersburger Politikwissenschaftler Michail Winogradow, sei offenbar der Propaganda seiner Hof-Kamarilla erlegen, die die Erfolge seiner ersten beiden Amtszeiten nicht mit günstigen Rahmenbedingungen – vor allem mit dem Allzeithoch für Energiepreise – erklärt, sondern mit Putins persönlichen Qualitäten. Durch die Machtfülle der Verfassung für den Präsidenten habe er – wie bisher alle Herrscher Russlands – den Kontakt zur Realität verloren. Die überwältigenden Mehrheiten, die er am Sonntag einfuhr, könnten schon in ein paar Monaten Makulatur sein. Viel werde davon abhängen, ob die Protestbewegung – bisher eine Minderheit in den Großstädten – echten Massencharakter annimmt.

Zwar signalisierten Putin und Noch-Präsident Dmitri Medwedew Bereitschaft zu Kompromissen und zum Dialog mit „konstruktiven Kräften“ der Protestbewegung. Medwedew verlangte vom Justizministerium sogar, ihm innerhalb von zehn Tagen die Gründe für die Nichtzulassung der oppositionellen Partei der Volksfreiheit zu nennen, die 2010 von Expremier Michail Kasjanow und anderen Liberalen gegründet wurde. Gleichzeitig gab er der Generalstaatsanwaltschaft auf, die Rechtmäßigkeit der Urteile gegen jene zu überprüfen, die auf einer bei den Protesten verabschiedeten Liste von politischen Häftlingen stehen. Unter den 32 Namen sind auch die von Michail Chodorkowski und anderen Topmanagern des zerschlagenem und quasi verstaatlichtem Ölkonzerns Jukos.

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