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Politik: Trend zum Mindestlohn

Anders als in Nordeuropa handeln die Gewerkschaften hierzulande nur noch für die Hälfte der Beschäftigten die Gehälter aus

Berlin - In immer mehr Branchen werden Mindestlöhne gefordert. Nach Briefträgern sind nun auch für Wachleute, Friseure, Altenpfleger, Zeitarbeiter und Beschäftigte der Müllabfuhr Mindestlöhne im Gespräch. Bereits jetzt muss im Baugewerbe ein Entgelt von mindestens 8,50 Euro je Stunde gezahlt werden.

Der Ruf nach staatlicher Hilfe bei der Lohnfindung hat einen Grund: Inzwischen kommen nur noch 57 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmer in den Genuss eines Tarifvertrages, im Osten des Landes sind es sogar 40 Prozent, heißt es vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Vor zehn Jahren wurden noch knapp zwei Drittel aller Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Tarifverträge legen Löhne und Arbeitsbedingungen fest und werden meist ohne staatliche Eingriffe zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelt.

In vielen Branchen sind die Gewerkschaften inzwischen jedoch zu schwach, um Tarifverträge durchzusetzen. Hinzu kommt, dass sich immer mehr Unternehmer keinem Arbeitgeberverband anschließen und auf Tarifverträge für ihre Mitarbeiter verzichten. Dies sei etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe der Fall, heißt es von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). „Auch die Bäcker oder Fleischereien wollen nicht mit uns über Tarifverträge verhandeln“, klagt Günter Regneri von der NGG Ost. Neben Verdi fordert deshalb auch die NGG einen gesetzlichen Mindestlohn, der von 7,50 Euro „in absehbarer Zeit“ auf neun Euro angehoben werden müsse. Da die Gewerkschaften vielerorts über wenig Rückhalt verfügen, haben sie in den vergangenen Jahren Tarifen zugestimmt, die ihren Mitgliedern wenig nützen dürften: In Thüringen verdienen Wachleute 4,38 Euro brutto in der Stunde.

Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass bundesweit weniger als 25 Prozent der Beschäftigten noch einer Gewerkschaft angehören. In der IG Metall sei inzwischen etwa jedes fünfte Mitglied Rentner. Gewerkschaftlichen Forderungen können Rentner keinen Nachdruck verleihen – die Möglichkeit zum Streik fehlt ihnen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat seit 1997 mehr als zwei Millionen Mitglieder verloren, noch vereint er 6,6 Millionen Menschen.

Vor allem Länder in denen die Gewerkschaften ausreichend stark sind, um flächendeckend hohe Tarife durchzusetzen, haben auf einen gesetzlichen Mindestlohn verzichtet. So gelten in Dänemark, Finnland und Schweden für rund 80 Prozent der Arbeitnehmer Tariflöhne. Auch in Österreich besteht eine fast flächendeckende Tarifbindung. In diesen Ländern haben sich die Gewerkschaften auch in Zeiten der Globalisierung behaupten können. In Skandinavien sind rund 75 Prozent der Beschäftigten organisiert, in Österreich immerhin 45 Prozent.

Mindestlöhne gibt es vor allem dort, wo zahlreiche kleinere Gewerkschaften konkurrieren oder Arbeitnehmer sich traditionell seltener organisieren. In Frankreich und Spanien gibt es anders als in Deutschland und Nordeuropa nicht eine dominierende Gewerkschaft je Branche, sondern mehrere kleine Verbände, die um Mitglieder buhlen und sich je nach Weltanschauung voneinander abgrenzen. Bei mehr als acht Euro pro Stunde liegt der gesetzliche Mindestlohn in Frankreich derzeit: Im Moment profitieren mehr als 2,5 Millionen Beschäftigte davon. In sechs EU-Ländern, Deutschlands westlichen Nachbarländern, sind Stundenlöhne unter acht Euro ungesetzlich.

Sollte sich der DGB mit seiner Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde durchsetzen, könnten bundesweit rund vier Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor mit einer Gehaltserhöhung rechnen.

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