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Alltägliches Bild. Dass sich der Müll an den Straßen Neapels türmt, ist nichts Ungewöhnliches. Die Einwohner der Metropole glauben nicht, dass sich nach der zweiten Runde der Kommunalwahlen am kommenden Sonntag und Montag daran etwas ändert. Foto: dpa

© dpa

Politik: „Truman Show“ in Neapel

Die wegen ihres Mülls berüchtigte Metropole wählt eine neue Stadtregierung

Wenn es Tag wird in Chiaiano, dann klemmt sich Maurizio eine Zigarette zwischen die Lippen, nimmt den Reisigbesen in die Hand und kehrt die Hauptstraße. Zwischen den geparkten Autos drängt er sich durch, er fegt um jedes Mofa herum, noch die letzte Kippe räumt er auf seine Schaufel. Stolz ist der 47-Jährige, einen Job zu haben, und er will ihn gut machen. Jedenfalls so weit er kommt. Die linke Straßenseite nämlich, die kann Maurizio nicht kehren. Da liegen die Müllhaufen, Sack über Sack, schon eineinhalb Meter hoch, jeden Tag werden sie höher, und in der heißen Maisonne verströmen sie den süßlichen, klebrigen Geruch von Verwesung.

„Ein Riesenmist ist das“, schimpft Maurizio in diesem Außenbezirk von Neapel: „Da müssen wir hier oben mit der größten Mülldeponie der Stadt leben, aber den eigenen Dreck kriegen wir nicht weg.“ Und was macht Maurizio, wenn er seinen Straßenkehrersack voll hat? „Dann kommen die Kollegen und nehmen ihn mit.“ Wohin? Maurizio zuckt mit den Schultern.

Es ist Wahlzeit in Neapel, und sie zieht sich hin. Die erste Runde der Kommunalwahlen vor zwei Wochen hat noch keine Entscheidung zwischen links und rechts gebracht; der neue Bürgermeister soll nun am kommenden Montag aus den Stichwahlen hervorgehen. Sicher ist nur eines: Nach zehn Jahren, zwei Amtsperioden und einem von links wie von rechts konstatierten fortgesetzten Verfall der Stadt konnte die sozialdemokratische Bürgermeisterin Rosa Russo Iervolino nicht mehr kandidieren. Keiner weint ihr nach, und auf den Straßen wünschen sich die Bürger, Iervolino möge auch gleich noch die gesamte politische und administrative Führungsschicht mitnehmen: „Diese ganze Klasse da hat versagt.“

Die beständig wiederkehrenden Müllkrisen seien „nur der sichtbarste Teil der Misere“, sagt der neapolitanische Publizist Antonio Polito: „Und während andere Städte vor den Kommunalwahlen über politische Feinheiten diskutieren, geht’s bei uns um Lebensfragen, um Fragen der Zivilisation.“

Maria Carmen Morese liebt ihre Stadt. Neapel, sagt sie, „ist unglaublich lebendig, es gibt sehr viele kreative Leute hier, so viel Energie, so viel künstlerisches Potenzial“. Und doch sei alles ein einziger „Gegensatz in sich“. Morese ist in Pompeji geboren, lange hat sie in Berlin gelebt, jetzt leitet sie das Goethe-Institut in Neapel. Jeden Tag, auf dem Fußweg ins Büro, kommt sie an der blitzblank gewienerten „Galleria Umberto Primo“ vorbei, der bombastischen jugendstilartigen Einkaufs- und Flanierhalle aus den großen, vergangenen Zeiten Neapels – und an den Müllhalden, die unmittelbar vor diesem Glitzertempel liegen.

„Warum“, fragt sich Morese, „liebt diese wunderschöne Stadt sich selbst so wenig?“ Den Müll überall zu lassen, selbst in der Stadtmitte; die privaten Abfalltüten – wie es tagtäglich geschieht – auch vor Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern abzulegen, die Haufen gar nachts anzuzünden und mit stinkend-giftigem Rauch ganze Straßen zu erfüllen – das alles sei doch „eine Respektlosigkeit gegenüber sich selbst“, findet sie.

Warum? Auf diese Frage haben selbst gestandene neapolitanische Journalisten, die ihre Stadt seit Jahren beschreiben, keine schlüssigen Antworten. Natascia Festa, die für den „Corriere del Mezzogiorno“ arbeitet, meint, es könnte immer noch etwas mit der historischen Kränkung zu tun haben, dass die einst größte Hauptstadt Europas vor 150 Jahren entthront und einem fremden, ungeliebten Staat eingegliedert worden sei. „Die Neapolitaner sind nie Bürger geworden, immer Untertanen geblieben.“

Antonio Polito, der Publizist und Politologe, hat noch eine andere Erklärung dafür, warum diese molochartige Millionenstadt nicht – oder auf ganz eigene Weise funktioniert. Da ist, sagt er, die schwierige soziale Situation Neapels: eine gewaltige Arbeitslosigkeit – bei Jugendlichen gar zwischen 40 und 50 Prozent –, eine Armutsquote, die zweieinhalb Mal so hoch liegt wie im Durchschnitt Italiens, und da gibt es heute immer noch eine starke Schicht dessen, was Polito eigens mit einem deutschen Begriff benennt: das „Lumpenproletariat“.

„In einer solchen Situation arrangiert sich halt jeder, wie er kann“, sagt Polito: „Neapel gründet sich auf lauter kleine Netze von Illegalitäten. Da ist zum Beispiel der Markthändler, der seine Reste irgendwo in die Gegend wirft, und der Polizist, der gnädig wegschaut, weil er dafür ab und zu Steige Äpfel kriegt.“ Jeder, sagt Polito, weiß, „dass es diese Netze gibt, im Großen wie im Kleinen, jeder regt sich über die Netze der anderen auf – und fühlt sich seinerseits berechtigt, genauso zu verfahren“.

Zu den Unbegreiflichkeiten Neapels zählt die blitzblanke, perfekt funktionierende U-Bahn, die für ihre Ausstattung mit moderner Kunst berühmt ist. Gerade wühlt sie sich mit gigantischen Baustellen – und natürlich noch größerem Verkehrschaos als ortsüblich – in Richtung Hauptbahnhof vor. Vor ein paar Tagen ist sie an der Universität angekommen.

Wenn man die Studenten hier fragt, was sie von der Rolle der Politiker in der neapolitanischen Dauerkrise halten, dann fällt auffallend vielen als erstes die „Truman-Show“ ein, der Kinofilm über die Inszenierung einer künstlichen Realität. „Die Politiker leben und reden“, sagt eine Studentin mit Dantes dicker „Göttlichen Komödie“ unter dem Arm, „als würden sie in einer abgesonderten Blase leben, so als ob’s die Krise und den Müll überhaupt nicht gäbe. Absurd.“

„Es sind doch immer die gleichen Personalnetze“, sagt ein anderer. „Die Herrscher wechseln, die Probleme bleiben.“ Und dann das immer wiederkehrende Problem süditalienischer Politik: „Bei vielen weißt du überhaupt nicht, was sie denken. Bei den einen Wahlen treten sie als Linke an, bei den nächsten im Verein mit Rechten, immer da, wo sie sich am meisten Geld oder die höchsten Posten holen können.“

Ob es eine Wende geben wird in Neapel, wenn nach den Stichwahlen an diesem Sonntag und Montag ein anderer Bürgermeister an die Macht kommt? Die Studenten brechen in Gelächter aus: „Pfeif’ drauf. Von wem sollten wir eine Wende erwarten?“

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