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Tschernobyl: Ewige Strahlen

Am Samstag jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 22. Mal. Auch heute ist das Ausmaß des Super-GAUs noch immer unklar

Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko hatte sich persönlich auf den nur 130 Kilometer langen Weg von Kiew zum Ort der Verwüstung gemacht: Er wollte dabei sein, als am vergangenen Mittwoch – 22 Jahre nach dem Reaktorunglück – der letzte verbrauchte Kernbrennstoff aus den Reaktoren der Kraftwerksanlage von Tschernobyl entfernt worden ist. Der exakte Jahrestag der Katastrophe fällt auf diesen Samstag, den 26. April. Bis Dezember 2000 war in der Anlage noch Strom produziert worden. Gleichzeitig wurde eine Anlage in Betrieb genommen, in der radioaktive Abfälle aus dem vom Super-GAU verseuchten Gebiet verarbeitet und auf die Endlagerung vorbereitet werden. In vier bis fünf Jahren soll in Tschernobyl schließlich ein ganzer Komplex aus Wiederaufbereitungsanlage und Atommülllager entstehen. Darin wird dann auch der Atommüll aus den vier ukrainischen Kernkraftwerken aufbereitet werden.

Doch gilt es nicht nur, die Folgen des Reaktorunglücks zu minimieren. Block 4 des Kraftwerks, in dem es 1986 zur unkontrollierten Kernschmelze kam, stellt noch immer eine Gefahr für die Umwelt dar. Deshalb werde der Bau einer neuen Schutzhülle in Angriff genommen, teilte der ukrainische Minister für Zivilschutz, Wladimir Schandra, mit. Das Projekt werde 2012 fertiggestellt. Es handelt sich um einen gewaltigen bogenartigen Bau, der 105 Meter hoch, 150 Meter lang und 260 Meter breit sein soll und sich wie eine Haube über den Unglücksreaktor legt. Rund 500 Millionen Dollar wird das Bauwerk kosten, finanziert zu einem großen Teil von der Europäischen Union. Bisher wurden etwa 1,5 Milliarden Dollar für Schutz- und Sicherungsmaßnahmen in Tschernobyl investiert. Bei den Geldgebern in Brüssel werden allerdings immer wieder Vermutungen laut, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Subventionen in dunklen Kanälen verschwindet – was in Kiew natürlich brüsk dementiert wird.

Die Zeit drängt

Doch scheint bei der EU angesichts der noch immer schwelenden Gefahr die Lust, über Geld zu streiten, nicht allzu groß – zumal die Zeit drängt. Natürlich sei der Sarkophag, der im Moment den Unglücksreaktor abdeckt. noch intakt, versucht Andrej Sawin, zuständiger Ingenieur des Projektes, Ängste zu zerstreuen. In den vergangenen drei Jahren seien verschiedene Arbeiten durchgeführt worden, um die Schutzhülle zu stabilisieren, die deshalb noch mindestens 15 Jahre halte. Die neue Haube aber, verspricht Sawin, garantiere für die nächsten hundert Jahre Ruhe.

Das soll beruhigend klingen, wird allerdings dadurch relativiert, dass sich auch 22 Jahre nach dem Unglück die Wissenschaftler noch immer über das Ausmaß der Katastrophe streiten. Viele Forscher fordern inzwischen neue Studien. Aufgeschreckt wurden sie vor allem durch Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO. Deren Berichten zufolge sind nach der Katastrophe 56 Personen gestorben und 4000 Fälle von Schilddrüsenkrebs behandelt worden. Die Zahl der möglichen Todesfälle wird auf 9000 geschätzt. Diese Zahlen seien ein Skandal, sagt der renommierte russische Forscher Alex Alexej Jablokow. Nach seinen Schätzungen liegt die Zahl der Toten bei bis zu 900 000 – sie ist vor allem auf die hohe Sterblichkeitsrate bei den im Umkreis des Unglücks-Reaktors lebenden Menschen zurückzuführen.

Auch in den Ohren der "Liquidatoren" klingen die beruhigenden offiziellen Studien wie Hohn. 600 000 dieser Männer haben in den ersten Wochen nach dem Unglück mit bloßen Händen und Schaufeln die strahlenden Trümmer des Reaktors beiseitegeschafft. Sehr viele sind gestorben, fast alle schwer krank. Sie haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass sie keinen Dank für ihren Einsatz erfahren, den sie mit ihrer Gesundheit bezahlt haben. Nun aber haben sie Angst, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Im ukrainischen Parlament gibt es einen Plan, den Opfern der Katastrophe die Beihilfe zu streichen.

Knut Krohn

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