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Politik: Tschernobyl: Jod, das war der erste Rat

Es waren die Tage, als die Welt einen Riss bekam. Er klaffte nicht ruckartig auf, sondern öffnete sich eher heimtückisch, verteilt über mehrere Tage, in denen sich das kollektive Bewusstsein Europas veränderte.

Es waren die Tage, als die Welt einen Riss bekam. Er klaffte nicht ruckartig auf, sondern öffnete sich eher heimtückisch, verteilt über mehrere Tage, in denen sich das kollektive Bewusstsein Europas veränderte. Das Gras, das in diesem Bilderbuch-Frühjahr vor Saft strotzte, schien ein künstliches Glühen auszusenden, der harmlos blaue Himmel wirkte wie ein großes, außer Kontrolle geratenes Solarium - niemand mochte dem Schein noch trauen. Der vierte Block des Atomreaktors Tschernobyl in der Ukraine war explodiert, hatte 200-mal so viel Atomenergie freigesetzt wie die Atombomben auf Japan - und einen neuen, absurden Begriff, den "Super-Gau". Jetzt, über 14 Jahre nach dem Unglück, hat der ukrainische Präsident die Schließung des gesamten Kernkraftwerks bekannt gegeben. Das Aus kommt am 15. Dezember, die Sanierung wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Und der Name Tschernobyl bleibt in den Geschichtsbüchern erhalten, ohne Halbwertzeit und Verfallsdatum.

Wie war das damals eigentlich? An den Tag des Unfalls, den 26. April, erinnert sich niemand in Deutschland, weil der Unfall nicht sofort bekannt wurde. Erst zwei Tage später schlugen schwedische Wissenschaftler Alarm, und am Abend des 28. April teilte die Nachrichtenagentur "Tass" in dürren Worten mit, dass etwas schief gegangen sei in Tschernobyl, eine "Havarie". Bitte was? Die deutschen Spätnachrichten setzten das Thema in die Welt, am nächsten Morgen berichteten die Zeitungen - und produzierten zunächst nichts als Ratlosigkeit bei Laien wie Experten. Die ewig Aufgeregten regten sich auf, die notorischen Abwiegler, voran die Bundesregierung, wiegelten ab, und es begann zunächst ein verhaltenes öffentliches Spiegelfechten, das an die Debatten über die Raketennachrüstung erinnerte.

Letzte Rettung: Island

Dann klingelten plötzlich die Telefone. Alle. Was sollte man tun? Jod! Jod war das erste Gegenmittel, das allen einfiel, da die traditionellen Hausmittel bei Atomexplosionen - Aktentaschen, Alufolie - gegen die diffuse Strahlungsgefahr keinen Schutz versprachen. Die Bestände der Apotheken wurden geräumt, obwohl die wenigen verfügbaren Tabletten die falsche Dosis des mutmaßlichen Wundermittels enthielten und Experten von der Einnahme abrieten; der Geschäftsführer der Berliner Apothekerkammer sprach von Panik. Bundesgesundheitsamt und meteorologisches Institut, Krankenhäuser, Gift-Kenner und Hellseher wurden mit einer Flut von Anfragen eingedeckt, auf die es keine vernünftige Antwort gab. Unter Kräuterfans sprach sich allenfalls herum, isländische Flechte würde helfen, doch das blieb ebenso eine Randerscheinung wie die letzte Konsequenz, die Reise nach Island. Dort war die radioaktive Wolke vorbeigeflogen.

Stellt man heute die beliebte Kennedy-Frage "Wo waren Sie gerade, als Tschernobyl passierte?", dann konzentrieren sich die Erinnerungen auf den 1. Mai, den ersten freien Tag nach Bekanntwerden des Unglücks. Dieser traditionelle Feiertag wird hierzulande im Freien verbracht, wenn das Wetter es zulässt. Das Wetter ließ es zu, denn ein stabiles Hochdruckgebiet hatte den Frühsommer nach Deutschland gebracht. Man hätte also gern den Picknickkorb gepackt und wäre ins Grüne gepilgert - doch zufällig war dieser 1. Mai wohl der Tag, an dem das Bewusstsein in der (west-)deutschen Öffentlichkeit den Sprung vollzog: vom Wissen über einen Knall irgendwo bei Kiew zur Erfahrung einer Katastrophe für ganz Europa. Auch heute wissen also die meisten Deutschen noch, was sie an diesem Tag gemacht haben, ob sie allen Warnungen zum Trotz fatalistisch an den Himmel blickten oder hinter Gardinen zu Hause vor dem Fernseher auf Verhaltensmaßregeln warteten.

Die damaligen DDR-Bürger erlebten sogar einen merkwürdigen Feiertag des Überflusses. Während die Vorhut der Arbeiterklasse unter Waffen zum Lob der Oktoberrevolution marschierte, diskutierte man außerhalb der Paraden, was nicht nur der westlichen Tagessschau, sondern in kleiner Dosis auch den eigenen Nachrichtenquellen zu entnehmen war. Jeder ahnte, dass Salat und Spargel, Radieschen und Schnittlauch nur deshalb in Mengen in den Läden lagen, weil West-Berlin als Abnehmer kurzfristig ausgefallen war. Kaufen oder abwarten? Aus der ADN-Spitzenmeldung dieses Tages ging hervor, dass die höchsten radioaktiven Werte, gemessen in Regensburg und Berlin (West), bis zum Abend um die Hälfte gesunken seien; Zahlen enthielt die Meldung nicht. Die oberste Richtlinie für DDR-Bürger wurde von Erich Honecker persönlich formuliert: Man müsse den Salat eben zwei Mal waschen, nicht wahr?

Im Durcheinander der ersten Wochen nach der Stunde Null waren allerdings auch die Ratschläge echter Experten nicht viel tiefgründiger. Aufrufe zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen blieben die Ausnahme, allgemein galt das Wort eines Münchener Strahlenhygienikers, der es für "blanken Unsinn" hielt, Kinder in geschlossenen Räumen festzuhalten. Das Dumme war nur: Niemand wusste, ob diesen Experten zu trauen war, oder ob sie auch nur ihre Rolle in einer Strategie der Beschwichtigung auf unsicherer Datenbasis spielten. Also handelten die Deutschen nach persönlichem Gefühl, und zwar meist radikaler als die europäischen Nachbarn, die wieder über die "German Angst" spotteten. Die Kirchen öffneten ihre Räume für Diskussionsveranstaltungen im betroffenen Stil der Zeit, auf denen unverzüglich das Dilemma des politisch korrekten Umgangs mit der Katastrophe sichtbar wurde: Ein Arzt empfahl, Kindern statt Dosenobst oder Vitaminpillen lieber Früchte aus Südafrika zu geben - und wurde von wütenden Protesten zum Schweigen gebracht.

Gut gemeinte Desinformation

Sicher ist: Unzählige Kindergartenkinder verbrachten zumindest den 2. Mai, oft aber noch die folgende Woche, im vermeintlichen Schutz ihrer Spielzimmer; selbst Frischkostfanatiker fahndeten verzweifelt nach Gemüsekonserven, H- und Trockenmilch mit glaubhaftem Herstellungsdatum aus der Zeit vor der Katastrophe, Reisen wurde zum Unsicherheitsfaktor schlechthin erklärt. Würde die Gefahr auf den Gipfeln der Alpen höher sein als im Schlick des Wattenmeers? Bot das Fichtelgebirge mehr Sicherheit als das Sauerland?

Alle beteiligten sich nach Kräften an der allgemeinen, gut gemeinten Desinformation. Wer einen Geigerzähler hatte, schleppte ihn auf den Wochenmarkt oder gleich ins nächste Fernsehstudio, wo alle auf die Skalen starrten und das unheimliche Ticken stets als Zeichen größter Gefahr nahmen. Vokabeln wie Becquerel, Millisievert, Cäsium und Strontium quollen aus Lautsprechern und Tageszeitungen. Gemessen wurde viel in dieser Zeit - doch was sind Zahlen ohne richtige Bezugspunkte? Die definierten Grenzwerte für Strahlenbelastung orientierten sich an den Risiken von Nuklearmedizinern und Kraftwerksingenieuren, aber niemand wusste, welche Mengen an belastetem Hüttenkäse oder Löwensenf man einer kompletten Bevölkerung kurzfristig und womöglich auf Dauer würde zumuten können. Aufatmen in Berlin: Zwei finnische Bauarbeiter kamen am 7. Mai aus Kiew nach Berlin, wurden unverzüglich ins Klinikum Steglitz geschafft und vermessen. Sie strahlten nur ganz sanft.

Tödliche Pilze

Was die Behörden unternahmen, hing in erster Linie von der politischen Richtung des jeweiligen Umweltministers ab. Welch eine Chance, sich gegen die abwartende Haltung der Bundesregierung zu profilieren! Hamburg empfahl also, bei Regen nicht spazieren zu gehen, Nordrhein-Westfalen warnte vor Kohlrabi und Spitzkohl, und ein Sprecher der hessischen Landesregierung forderte die Eltern auf, ihre Kinder nicht im Buddelkasten spielen zu lassen - Umweltminister in Wiesbaden war seit einem halben Jahr ein gewisser Joschka Fischer. In Bonn gab man man sich zurückhaltender, aber nicht weniger konfus. Große Debatte: War die Einfuhr von Milch aus Polen und der Sowjetunion nun verboten oder nicht? Die Lösung: Solche Importe gab es überhaupt nicht. Heftiger Streit: Sollten die bayerischen Kühe von den Almen getrieben werden oder nicht? Die Lösung: Auf den Almen lag noch Schnee.

Immer mehr Feld- und Waldfrüchte wurden reif und provozierten neue Fragen. Beliebte Pilze, vor allem Maronen und Pfifferlinge, galten plötzlich als ebenso tödlich wie Knollenblätterpilze. "Darf ich die Johannisbeeren aus meinem Garten nun essen oder nicht?" fragte ein Tagesspiegel-Leser, und die Antwort war diesmal ausnahmsweise einfach, weil er gerade 93 Jahre alt geworden war.

Mehr Sorgen bereitete das andere Ende der Geburtenpyramide: Eine Zeit lang wurde ebenso heftig wie ernsthaft darüber diskutiert, ob präventive Abtreibungen wegen eventuell drohender Missbildungen ethisch vertretbar seien. Im Zonenrandgebiet richtete ein adliger Waldbesitzer ein Massaker an, weil er auch in Zukunft sorglos Rehrücken und Wildschweinkeule essen wollte. Seine Gäste durften auf alles schießen, was sich im Wald bewegte; das Fleisch, noch nicht vollgesogen mit den bösen Strahlen aus Wurzeln, Blättern und Beeren, kam in die schützende Kühltruhe. Wie sehr Deutschland auf sich selbst zurückgeworfen war, spürten selbst die Freunde klassischer Musik, denn das ängstliche New Yorker Juillard-Quartett sagte im Mai eine Tournee ab.

Dann zeigten sich erste Symptome der Entspannung. Ende Mai schaltete die Post die Nummer um, unter der drei Wochen lang die aktuellen Messwerte des Hahn-Meitner-Instituts verbreitet worden waren, zugunsten von aktuellen Informationen zur bevorstehenden Fußball-WM in Mexiko. Merke: An der Reihenfolge der wirklich wichtigen Dinge hat auch Tschernobyl nichts geändert.

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