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Anhänger der pro-kurdischen Partei HDP protestieren vor dem Reichstagsgebäude.

© imago/Seeliger

Türkei: Auf der Kippe

Außenminister Steinmeier will die EU-Gespräche mit der Türkei fortsetzen – trotz Erdogans Kurs.

Seit elf Jahren führt die Europäische Union Beitrittsgespräche mit der Türkei. In dieser Zeit hat das Land am Bosporus eine politische Achterbahnfahrt erlebt, die zuletzt in einen Putschversuch und in massenhafte Verhaftungen von Oppositionellen und Journalisten durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mündete. In Berlin hat sich im vergangenen Jahrzehnt eines nicht geändert: Die SPD befürwortet im Grundsatz die EU-Beitrittsgespräche, die CDU/CSU steht ihnen kritisch gegenüber. Dies wurde am Donnerstag bei einer Debatte über die aktuelle Lage in der Türkei deutlich. Die Aussprache war nach den Verhaftungen von Journalisten der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ und Abgeordneten der pro-kurdischen Partei HDP anberaumt worden.

Nach dem jüngsten Schlag von Erdogan gegen die Opposition war EU-weit eine neue Debatte über mögliche Gegenmaßnahmen entbrannt. So hatte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn Wirtschaftssanktionen gegen Ankara ins Spiel gebracht. Kompliziert wird die Diskussion über die angemessene Reaktion auf Erdogans Kurs derweil durch den Umstand, dass die Europäische Union in der Flüchtlingskrise auf die Zusammenarbeit mit dem türkischen Präsidenten angewiesen ist: Im vergangenen März hatten beide Seiten eine Flüchtlingsvereinbarung geschlossen, die sich gegen die Schlepper in der Ägäis richtet.

Steinmeier: Die Türkei steht an einer Wegscheide

Zwar herrschte am Donnerstag im Bundestag Einigkeit, dass eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche nicht mehr denkbar wäre, falls Erdogan seine Pläne zur Wiedereinführung der Todesstrafe tatsächlich wahrmacht. Wenn man aber „gerade jetzt“ die Beitrittsgespräche beende, dann enttäusche man die Hoffnungen vieler Menschen in der Türkei, betonte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). „Die Türkei steht an einer Wegscheide“, erklärte er. Die Verantwortung, welche Richtung – hin zur EU oder weg von der Gemeinschaft – die Türkei nehme, liege allein in Ankara. Der Außenminister kündigte an, dass er am kommenden Dienstag Gespräche in Ankara führen werde. Dabei werde es möglicherweise zu einer Kontroverse mit der türkischen Regierung kommen, sagte er. Der Außenminister kündigte zudem ein Aktionsprogramm an, mit dessen Hilfe unter anderem verfolgte türkische Wissenschaftler und Journalisten eine Tätigkeit in Deutschland finden und der deutsch- türkische Jugendaustausch gefördert werden sollen.

Während Steinmeier davor warnte, die EU-Tür zur Türkei einfach zuzuschlagen, äußerte der CSU-Außenpolitiker Hans-Peter Uhl grundlegende Bedenken gegen die Beitrittsgespräche. Die Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara seien von Anfang an ein „Irrweg“ gewesen, sagte er.

Der Vorsitzende des Europaausschusses, Gunther Krichbaum (CDU), sprach sich dafür aus, angesichts des harten Vorgehens von Erdogan gegen die Opposition jenen Teil der EU-Vorbeitrittshilfen einzufrieren, der zur Förderung der Justiz und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gedacht sei. Dabei handelt es sich um ein Drittel der bis zum Jahr 2020 vorgesehenen Summe von 4,4 Milliarden Euro.

Linke und Grüne fordern Ende der Flüchtlingsvereinbarung

Scharfe Kritik am EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei kam unterdessen aus der Opposition. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch forderte, den „menschenunwürdigen Flüchtlingsdeal“ zu beenden. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth sagte, das Vorgehen Erdogans gegen die Opposition stehe im Widerspruch zu den Voraussetzungen der Flüchtlingsvereinbarung, nämlich der Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland. „Deswegen muss dieser Deal beendet werden“, forderte die Grünen-Politikerin.

Bedeutsam ist die Türkei für Deutschland nicht nur angesichts der Flüchtlingsvereinbarung, sondern auch wegen des Stützpunktes Incirlik, von dem deutsche Aufklärungsjets im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ zu Flügen über Syrien und dem Irak starten. Obwohl Erdogan zwischenzeitlich Besuche von Bundestagsabgeordneten bei den rund 250 deutschen Soldaten auf dem Stützpunkt unterbunden hatte, verlängerte der Bundestag am Donnerstag das Incirlik-Mandat. Zuvor hatte die Bundesregierung auf Wunsch der SPD-Fraktion eine Protokollerklärung vorgelegt, der zufolge sich Berlin auch weiterhin für das Besuchsrecht der deutschen Abgeordneten einsetzen werde.

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