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Türkei: "Bis zum letzten Blutstropfen" in Istanbul

Bei einem großangelegten Einsatz der Polizei gegen Linksextremisten in Istanbul sind vermutlich drei Menschen getötet worden. Die tödliche Schießerei wirft ein Schlaglicht auf die Stärke der militanten Szene in der Türkei.

Für Senem Kandemir und ihren Mann begann die Woche mit einem Alptraum. Am frühen Montagmorgen wurde das Ehepaar im gutbürgerlichen Istanbuler Wohnviertel Bostanci von Schüssen und Explosionen geweckt. Vier Stunden lang harrten die Kandemirs im Flur ihrer Wohnung im vierten Stock eines Apartmenthauses aus, während drei Etagen unter ihnen gekämpft wurde. Detonationen erschütterten das Gebäude. "Überall riecht es nach Schießpulver, überall ist Staub," sagte Kandemir telefonisch dem türkischen Nachrichtensender NTV. Als die Schießerei kurz darauf endete, waren drei Menschen tot und acht weitere zum Teil schwer verletzt.

Das Gebäude der Kandemirs war Schauplatz einer mehr als sechsstündigen Schießerei zwischen der türkischen Polizei und Mitgliedern einer linksextremen Splittergruppe namens "Revolutionäres Hauptquartier". Die Gruppe plante für die kommenden Tage einen spektakulären Anschlag und sei von der Polizei beobachtet worden, sagte Innenminister Besir Atalay. Am frühen Montagmorgen bemerkten Mitglieder der Gruppe offenbar die Polizeibeschattung, lieferten sich ein erstes Gefecht mit den Sicherheitskräften und zogen sich dann in die Wohnung im ersten Stock des Hauses in Bostanci zurück.

"Bis zum letzten Blutstropfen" werde er kämpfen, sagte einer der mutmaßlichen Linksextremisten in einer Botschaft an die vor dem Haus versammelten Medienvertreter. "Ich habe genug Handgranaten und Munition," sagte der Mann, der sich Orhan Yilmazkaya nannte. Er war offenbar gut vorbereitet: Yilmazkaya benutzte für seine Botschaft ein Funkgerät und die Frequenz des Polizeifunks.

Behörden verhängen Nachrichtensperre

Die Behörden gingen von bis zu drei Kämpfern in der Wohnung aus - als die Aktion gegen Mittag beendet wurde, war einer von ihnen tot. Was aus den beiden anderen wurde, war zunächst nicht bekannt. Die Behörden verhängten eine Nachrichtensperre.

Yilmazkaya und seine mutmaßlichen Komplizen hatten über Stunden von der Wohnung aus das Feuer auf alles eröffnet, was sich draußen bewegte. Ein Polizist starb im Kugelhagel, ein Passant kam durch einen Kopfschuss ums Leben. Ein NTV-Kameramann hatte Glück im Unglück, als eine Kugel sein linkes Ohr streifte. Er filmte weiter.

Die vor dem Haus zusammengezogenen Spezialkräfte der Polizei versuchten, die verschanzten Kämpfer mit Dauerbeschuss zu zermürben; Fernsehbilder zeigten später Dutzende von Einschlusslöchern an einem Balkon der Wohnung. Auf einen Versuch, die Wohnung zu stürmen, verzichteten die Beamten aus Furcht vor Sprengfallen. Zwischenzeitlich stieg Rauch aus der Gebäudeetage auf. Wegen der Nachrichtensperre war zunächst unklar, wie die Polizei den Widerstand in der Wohnung schließlich brechen konnte.

Linksextreme Gruppen sorgen immer wieder mit Anschlägen für Aufsehen

Vom "Revolutionären Hauptquartier" hatte in der türkischen Öffentlichkeit vor Montagmorgen noch nie jemand etwas gehört. Das ist nichts Ungewöhnliches für eine solche Splittergruppe. Nach dem Militärputsch von 1980 waren insbesondere viele linke Gruppen in die Illegalität abgetaucht, eine Entwicklung, die bis heute nachwirkt. In den vergangenen Jahren sorgten linksextreme Gruppen immer wieder mit Anschlägen für Aufsehen. Das "Revolutionäre Hauptquartier" steckte laut Innenminister Atalay hinter kürzlichen Anschlägen auf eine Armee-Einrichtung in Istanbul und auf die Zentrale der fromm-konservativen Regierungspartei AKP in der Stadt.

Die Linken sind bei weitem nicht allein in der militanten Szene der Türkei. Es gibt viele gewaltbereite Organisationen und Splittergruppen, deren Spektrum von radikalen Kurden und Islamisten bis hin zu den Linken und Rechtsextremisten reicht. Mitunter gibt es Querverbindungen zwischen diesen Gruppen. So soll das "Revolutionäre Hauptquartier" Kontakte zu den stalinistisch organisierten PKK-Kurdenrebellen gehabt haben.

Was immer ihre ideologische Ausrichtung sein mag - Probleme bei der Beschaffung von Waffen scheinen die türkischen Extremisten nicht zu haben. Erst vor wenigen Tagen waren in einem Waffenversteck mutmaßlicher rechtsnationalistischer Umstürzler zahlreiche Panzerfäuste gefunden worden, die offenbar bei Anschlägen auf Politiker benutzt werden sollten. Auch in der Wohnung des "Revolutionären Hauptquartiers" fand die Polizei am Montag viele Waffen.

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