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Klare Rangordnung. Der türkische Regierungschef Erdogan (vorne rechts) und Offiziere im vergangenen August in Ankara.

© dpa

Türkei: Der Staatsanwalt hat das Kommando

Für die türkische Armee geht ein "Annus horribilis" zu Ende – ihr Einfluss auf die Politik ist gesunken. Die unter anderem von der EU gelobten neuen Verhältnisse finden auch im öffentlichen Auftreten der Armeespitze ihren Ausdruck.

Wieder sind bei der staatsanwaltschaftlichen Durchsuchung einer Armee-Einrichtung in der Türkei viele Hinweise auf Putschvorbereitungen gefunden worden. Die neue Enthüllung sowie der Beginn des Prozesses gegen fast 200 mutmaßliche Putschisten aus den Reihen der Armee beschließen ein Jahr, in dem die Generäle von einem Skandal in den nächsten taumelten, in einem Machtkampf mit der von ihnen verabscheuten Regierung den Kürzeren zogen und viel von ihrem politischen Einfluss einbüßten.

Im Rahmen von Ermittlungen gegen einen mutmaßlichen Erpresserring innerhalb der Armee ließ die Istanbuler Staatsanwaltschaft vergangene Woche einen Marine-Stützpunkt in Gölcük südlich von Istanbul durchsuchen. Nach Presseberichten wurden dabei zehn Säcke voller Beweismaterial sichergestellt; ein anonymer Informant hatte die Staatsanwälte per E-Mail alarmiert und geschrieben, in der Kommandantur würden Dokumente vernichtet. „Säckeweise Putschpläne“, titelte eine Zeitung.

Die Schriftstücke und Computerdisketten von Gölcük enthalten den Zeitungen zufolge eine Fortschreibung früherer und bereits enthüllter Putschvorbereitungen. So sollen die mutmaßlichen Putschisten eine Liste von Offizieren angefertigt haben, die als Gegner eines Coups gelten und deshalb beim Staatsstreich ins Exil geschickt werden sollten. Um jeden Verdacht der Manipulation auszuschließen, beauftragte die zivile Staatsanwaltschaft nicht die Polizei mit der Durchsuchung in Gölcük, sondern die Militärbehörden selbst.

Der Fall Gölcük hängt mit einer ganzen Serie von Putschplänen zusammen, die unter ihren Decknamen wie „Vorschlaghammer“ und „Käfig“ bekannt wurden. Mehrere Ex-Generäle stehen zudem als mutmaßliche Anführer des rechtsradikalen Geheimbundes Ergenekon vor Gericht, der ebenfalls einen Umsturz gegen die religiös-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geplant haben soll.

Vor wenigen Tagen lenkte der Prozessbeginn im Fall „Vorschlaghammer“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erneut auf mutmaßliche antidemokratische Umtriebe in den strikt säkularistischen Streitkräften, die Erdogan als Islamisten betrachten. Dutzende aktive und pensionierte Generäle, darunter ehemalige Mitglieder des Generalstabes in Ankara, stehen als Angeklagte vor dem Richter.

Lange hatte die Armee alle Vorwürfe zurückgewiesen und von einer Schmutzkampagne gesprochen. Dabei gab es gute Gründe, die Vorwürfe ernst zu nehmen. Noch im Jahr 2007 hatte die Armeeführung offen mit einem Putsch gegen Erdogan gedroht; seit 1960 haben die Generäle vier Regierungen von der Macht verdrängt, was von Teilen der Öffentlichkeit bejubelt wurde. Doch heute gibt es keine Unterstützung mehr für ein Eingreifen der Armee: Kurz nach der Putschdrohung von 2007 errang Erdogans Regierung bei Parlamentswahlen einen Erdrutschsieg.

Im Sommer wagte die Armee dennoch eine Machtprobe mit der Regierung – und erlitt eine demütigende Niederlage. Zum ersten Mal konnten die Generäle ihre Beförderungswünsche nicht durchsetzen, sondern mussten sich den Einsprüchen der Regierung fügen. Wenig später stimmten die Türken in einem Referendum für eine weitere Einschränkung der Macht der Militärs. Und dann mussten die Generäle auch noch dabei zuschauen, wie die Ehrengarde der säkularistischen Armee vor der Kopftuch tragenden Frau von Staatspräsident Abdullah Gül strammstand.

Damit nicht genug. Vor wenigen Wochen wurden drei Generäle wegen mutmaßlicher Verwicklung in Putschpläne von den zuständigen Ministern vom Dienst suspendiert. Das war eine kleine Revolution in einem Land, in dem es Politiker bisher nie wagten, von ihrer gesetzlichen Position als Vorgesetzte der Militärs auch Gebrauch zu machen. Die unter anderem von der EU gelobten neuen Verhältnisse finden auch im öffentlichen Auftreten der Armeespitze ihren Ausdruck. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die bei allen möglichen Gelegenheiten das Wort ergriffen und die Politiker zusammenstauchten, fällt der neue Generalstabschef Isik Kosaner vor allem durch sein Schweigen auf.

Im neuen Jahr wird Kosaner die Aufgabe haben, eine demokratieverträgliche Rolle der Armee zu definieren und das ramponierte Ansehen der Streitkräfte wieder zu verbessern. Beides wird nur möglich sein, wenn der General demonstrieren kann, dass die moderne türkische Armee keine Putsch-Abenteurer in ihren Reihen duldet. Die Durchsuchung in Gölcük dürfte nicht die letzte ihrer Art gewesen sein.

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