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Nach dem Putschversuch pflegt Erdogan ein entspannteres Verhältnis zum Chef der größten Oppositionspartei, Kemal Kilicdaroglu.

© dpa

Türkei: Erdogan sucht neue Freunde

Nach dem Putsch ist der türkische Staatschef ungewohnt freundlich zur Opposition. Damit soll die Kritik aus Europa an Erdogans diktatorischen Gelüsten verstummen

Bis vor zwei Wochen haben sie nicht einmal miteinander gesprochen. Die Kunst, sich bei öffentlichen Anlässen die Hand zu geben und dabei aneinander vorbeizusehen, beherrschten Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kiliçdaroglu perfekt. Doch seit dem gescheiterten Putsch, der das Land in seinen Grundfesten erschüttert hat, scheint alles anders.

Der Sozialdemokrat Kiliçdaroglu fuhr erstmals zu Erdogans Protzpalast in Ankara, der Staatschef zog wiederum alle Beleidigungsklagen zurück, die er gegen den Oppositionsführer angestrengt hatte. Und nun hat Erdogan den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei CHP gar zur Großkundgebung am Sonntag nach Istanbul eingeladen, dem „Demokratiefest“, zu dem wohl mehrere hunderttausend Erdogan-Anhänger gebracht werden. „Ich möchte gern, dass Herr Kiliçdaroglu auch dabei ist“, sagte Erdogan am Donnerstag in einer Rede im Präsidentenpalast und nannte den Oppositionsführer sogar beim Namen. Eine Botschaft der Einigkeit solle dem Volk gegeben werden.

Opposition warnte schon seit langem vor Gülen

Für die Türkei ist das ein Novum. In den bisher 14 Jahren Alleinregierung der konservativ-religiösen AKP war kein Platz für Konsens und Kompromiss. Die Geschlossenheit der Parteien gegen die Putschisten, die Bombardierung des Parlaments, die Abgeordnete aller Fraktionen gemeinsam erlebten, haben das innenpolitische Klima zumindest vorübergehend entspannt – trotz Ausnahmezustand und Massenfestnahmen.

Denn die Opposition, allen voran die Sozialdemokraten, hatten schon seit Jahren die Unterwanderung des Staates durch die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen angeprangert. Er wird nun für den Putsch verantwortlich gemacht. „Unsere Freunde haben uns gewarnt, doch wir haben nicht zugehört“, erklärte Justizminister Bekir Bozdag in Richtung Opposition dieser Tage zur allgemeinen Verblüffung im Parlament. Bozdag war es, der noch 2011 Gülen im Parlament vor Angriffen in Schutz genommen hatte und erklärte, der Prediger sei ein „weiser und ehrenwerter Mann“.

Von Devlet Bahçeli, dem Führer der rechtsgerichteten Nationalisten, hat Erdogan bereits eine Zusage erhalten. Bahçelis MHP steht Erdogans Partei politisch ohnehin näher, im Gegensatz zu den säkularen Sozialdemokraten der CHP. Kiliçdaroglu ließ wissen, dass er über Erdogans Einladung mit seinen Parteifreunden beraten wolle. Die Sozialdemokraten organisierten ihrerseits am Donnerstag eine Demokratiekundgebung in Izmir, einer der letzten Hochburgen der Partei.

Die kurdische HDP ist von der Freundlichkeit ausgenommen

Über Erdogans Absichten macht sich die türkische Opposition keine Illusionen. Sie sieht den Einmannstaat kommen. Umso mehr drängt Kiliçdaroglu auf die „volle Demokratie“, die Bewahrung des Parlamentarismus, der eigentlich in der türkischen Verfassung festgeschrieben ist. Die sei die Bedingung für eine Zusammenarbeit mit Erdogan bei der Reform des Staates nach dem Putsch, sagte der Chef der Sozialdemokraten nun in einem Interview mit Bir Gün, einer kleinen linksstehenden, regierungskritischen Tageszeitung, die noch erscheinen darf.

Erdogans ungewohnte Freundlichkeit gegenüber der Opposition – die prokurdische Minderheitenpartei HDP ist davon freilich ausgenommen – folgt den zunehmend aggressiven Tönen des türkischen Staatschefs gegen das westliche Ausland. „Der Westen unterstützt den Terrorismus und steht auf der Seite von Putschisten“, erklärte Erdogan in einer Rede vor Investoren. Täglich breiten die Regierungsmedien ihre Verschwörungstheorien über Barack Obama und die amerikanischen Generäle aus, die Hand in Hand mit Gülen den Umsturz in der Türkei geplant hätten.

Gegen den in Pennsylvania lebenden Gülen erließ ein Istanbuler Gericht am Donnerstag offiziell Haftbefehl. Dass die USA den Auslieferungsantrag prüfen müssen, will in Ankara niemandem einleuchten. Als der Stabschef der US-Armee, John Dunford, zu Wochenbeginn seinen türkischen Kollegen Hulusi Akar besuchte, der von den Putschisten gefangen genommen und misshandelt worden war, verwies der US-General auf die Justiz seines Landes, die den Auslieferungsantrag behandle. Akar unterbrach ihn angeblich mit den Worten: "Ich bin der Beweis. Was brauchen Sie noch?"

Österreich will Beitrittsverhandlungen stoppen

Mit den Oppositionsführern an seiner Seite will Erdogan nun offenbar Einigkeit gegenüber den USA und Europa demonstrieren. Die Kritik der EU-Staaten an den Säuberungswellen in der Türkei macht Erdogan wütend. Die Jagd auf angebliche Unterstützer des Predigers hat dabei mittlerweile sogar das Städtische Theater in Istanbul erreicht, wo neben anderen ein bekannter Regisseur entlassen wurde.

Die Türkeiskeptiker in der EU sehen sich bestätigt. Österreichs Bundeskanzler Christian Kern war der erste Regierungschef, der sich vorwagte. Den Stopp der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei will er beim nächsten EU-Gipfel am 17. September diskutieren.

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