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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

© Florian Choblet/AFP

Türkei: Erdogan vor den Trümmern seiner Visionen

Recep Tayyip Erdogan wollte die Türkei zum Stabilitätsfaktor zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten machen. Er scheiterte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wer vor einem Scherbenhaufen steht, bejammert die Schönheit der Dinge, die zu Bruch gegangen sind. Aber immer wieder geschieht, dass der Verursacher das ganze Ausmaß des eingetretenen Verlustes noch gar nicht begriffen hat. In dieser Rolle müssen wir uns jetzt wohl den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorstellen, der lange die Vision hatte, sein Land zu einem Anker der Verlässlichkeit in einer unruhigen Region machen zu können, und der jetzt nicht ohne eigene Schuld vor den Trümmern seiner politischen Zielvorstellungen steht.

Es ist erst fünf Jahre her, dass Erdogan in einem Zeitungsbeitrag die Türkei als „an der Nahtstelle zwischen europäischer Stabilität und einem zunehmend instabilen und frustrierten Nahen und Mittleren Osten“ gelegen beschrieb. Und er fügte hinzu: „Die geografische Lage macht die Türkei zu einem zentralen Akteur einer wirksamen westlichen Strategie zur Lösung der Konflikte dieser Region.“

Erdogan, als Regierungschef über ein Jahrzehnt der große Modernisierer eines Landes mit großen EU-Hoffnungen, träumte davon, die Beziehungen zu den östlichen Ländern von Syrien über den Iran bis hin zu den Turkstaaten Usbekistan und Turkmenistan zu verbessern, Moderator der muslimischen Welt und gleichzeitig Brückenbauer nach Israel zu sein. Kein islamischer Staat hat länger diplomatische Beziehungen zu dem der Juden, ein militärisches Geheimabkommen verband beide über Jahrzehnte.

Seit 2012 führte der Friedensprozess mit der PKK und anderen kurdischen Organisationen zudem zu einem Ende der Gewalt nach mehr als 40 000 Opfern auf beiden Seiten. Entlang der unruhigen Grenzen zwischen Iran, Irak, Syrien und der Türkei hatten sich kurdische Autonomiegebiete und Sonderzonen gebildet, die kurdischen Peschmerga waren die entschlossensten Kämpfer gegen den Terror des IS.

Beziehungen zu Israel eingefroren

Aber was einst wohldurchdacht aussah, erwies sich als völlig konzeptionslos. Vor zehn Jahren machten die Familien Erdogan und Assad gemeinsam Urlaub, heute sind sie Feinde. Die Beziehungen zu Israel eingefroren, die zum Iran bestenfalls unterkühlt, nachdem er einst dessen Staatspräsidenten Ahmadinedschad als „ohne Zweifel unser Freund“ benannt hatte. Das Tischtuch zu den Kurden zerschnitt Erdogan, weil er seinen wichtigsten innenpolitischen Gegner, die kurdische Partei HDP, nach deren jüngstem Wahlerfolg kriminalisieren und demnächst verbieten lassen will.

In dem eingangs zitierten Text lobt er das von ihm regierte Land so: „Die Türkei ist vielleicht das einzige Land der Welt, das erfolgreich Islam, Demokratie und Moderne vereint.“ Aber Erdogan versteht, das ist inzwischen deutlich, Moderne als technischen, nicht als kulturellen Begriff. Für ihn bedeutet Moderne, die größten Flughäfen und die spektakulärsten Brücken zu bauen. Modern heißt für ihn nicht Befreiung der zivilen Gesellschaft vom Zugriff der Religion auf das ganze Leben, heißt sicher nicht Gleichberechtigung von Mann und Frau, heißt auf keinen Fall intellektuelle Offenheit von Debatten und Überzeugungen.

Aber vielleicht war die Beschreibung seines Landes, die sich wie eine prophetische Weisung liest, am Ende ja auch nicht mehr als eine taktische Finte. In einer frühen Phase seiner Karriere wurde er einmal wegen eines Zitats verurteilt. Es lautet: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“

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