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Proteste gegen Premier Erdogan.

© AFP

Türkei: Erdogans Partei kritisiert ihren Chef wegen der Gezi-Proteste

Die landesweiten Unruhen vom Juni haben für Premier Recep Tayyip Erdogan ein politisches Nachspiel: Offene Kritik aus seiner eigenen Partei ist selten - doch jetzt hat ein Abgeordneter der Regierung vorgeworfen, "strategische Fehler" begangen zu haben.

In der türkischen Regierungspartei AKP wächst die Kritik am Krisenmanagement der Führung bei den landesweiten Unruhen vom Juni. In einer Studie der Proteste warf ein AKP-Abgeordneter der Regierung jetzt vor, das Mandat ihres Wahlsieges als Freibrief für Projekte ohne Bürgerbeteiligung missverstanden und „strategische Fehler“ begangen zu haben. Von einem Lernprozess der Regierung ist aber noch nichts zu bemerken. Sportminister Suat Kilic warnte die Fußballfans des Landes mit scharfen Worten davor, ihre regierungskritische Haltung in die Stadien des Landes zu tragen.

Offene Kritik aus den eigenen Reihen an Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist selten. Einerseits gilt der nach wie vor bei den meisten konservativen Türken sehr beliebte Premier bei vielen AKP-Politikern als Erfolgsgarant. Andererseits gibt das türkische Parteiengesetz dem Regierungschef die Möglichkeit, AKP-interne Kritiker ohne viel Federlesen abzuservieren. 

Behörden haben die Proteste selbst ausgelöst

Umso erstaunlicher ist die Analyse der Denkfabrik AGAM des des AKP-Politikers und Politologen Idris Bal, die am Montag von der Zeitung „Radikal“ veröffentlicht wurde. Bals Institut kommt darin zu dem Schluss, dass die Behörden mit ihrem harten Vorgehen gegen den ursprünglich lokal begrenzten Protest gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park die landesweite Welle von Demonstrationen selbst auslösten. Lokalverwaltungen und Regierung hätten anfgangs jeden Dialog mit den Demonstranten verweigert. Die Istanbuler Behörden hätten schon lange vor dem Krach im Gezi-Park bei der Planung von Bauprojekten mehr Kontakt zur Bevölkerung suchen müssen, kritisiert Bal.

Wohl mit Rücksicht auf die eigene Karriere ist Bal bemüht, Erdogan persönlich von jeder Kritik auszunehmen: Der Ministerpräsident sei falsch informiert worden. Dennoch fordert Bal, alle Beteiligten müssten sich nach sechs Todesopfern und tausenden Verletzten bei den Straßenschlachten fragen, wo sie Fehler gemacht hätten. Schon im Juni hatten sich einzelne AKP-Angeordnete mit Kritik am Vorgehen der Regierung aus der Deckung gewagt. Bals Analyse zeigt nun, dass die Unzufriedenheit in Teilen der Regierungspartei wächst. 

Umstrittenes nächtliches Alkoholverbot

Auch beim umstrittenen Alkhol-Gesetz werden selbstkritische Stimmen laut. Cevdet Erdöl, der Architekt des Gesetzes aus den Reihen der AKP, sagte, die Regierung habe es versäumt, den gesundheitspolitischen Ansatz der neuen Alkohol-Einschränkungen der Öffentlichkeit zu erklären.

Nach dem neuen Gesetz erhalten Etiketten auf Alkoholflaschen oder -büchsen künftig Piktogramme, die Jugendliche unter 18 Jahren, Schwangere und Autofahrer vor Alkoholkonsum warnen. Zudem muss der rot umrandete Spruch „Alkohol ist nicht Ihr Freund“ auf den Etiketten erscheinen. Das Gesetz enthält zudem ein Werbeverbot für alkoholische Produkte und ein nächtliches Alkohol-Verkaufsverbot für Geschäfte und Supermärkte. Die Opposition sieht in den Neuregelungen ein Schritt hin zur Islamisierung des Landes.

Die neuen Verkaufseinschränkungen seien nicht strenger als ähnliche Regelungen in Europa oder den USA, sagte Erdöl dazu. Jeder, der Alkohol trinken wolle, könne dies auch weiter in den Kneipen tun – bei Erdogan hörte sich das vor kurzer Zeit noch anders an: Wer Alkohol trinken wolle, solle das zu Hause tun, sagte der Premier.

Überhaupt lassen Spitzenpolitiker der Regierung trotz der Kritik aus der zweiten Reihe der AKP nur wenig Selbstkritik erkennen. So will Sportminister Kilic verhindern, dass die türkischen Fußballfans den Gezi-Protest in der neuen Saison fortsetzen. Ein Stadion sei kein Ort für politische Aktionen, warnte der Minister. Er drohte mit einem Einschreiten der Sicherheitskräfte und verglich politisierte Fans mit Terroristen. Die Oppositionspartei CHP warf dem Minister daraufhin vor, in den Stadien Angst und Schrecken zu verbreiten.

Alles wartet nun gespannt darauf, wie die Behörden reagieren, wenn von den Rängen tatsächlich Erdogan-kritische Sprechchöre erschallen sollten. Die neue Saison der türkischen „Süper Lig“ beginnt am kommenden Wochenende.

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