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Nicht atmen. Menschen schützen sich in Istanbul vor Tränengas, das die Polizei gegen kurdische Demonstranten eingesetzt hat. Die Gewaltwelle ebbt nicht ab.

© dpa

Türkei: Erst schießen, dann reden

Der türkische Premier Davutoglu kommt nach Berlin. Er verteidigt die harte Linie Ankaras gegen die PKK und gegen die angeklagten Wissenschaftler.

Der türkische Ministerpräsident Davutoglu wird sich in den kommenden Tagen einige kritische Fragen zu seinem Verhältnis zur Meinungsfreiheit anhören müssen. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos und anschließend bei den ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen in Berlin dürfte Davutoglu auf die Festnahme von regierungskritischen Akademikern durch die türkische Justiz angesprochen werden. Eine Änderung der kompromisslosen Haltung der Regierung ist aber nicht in Sicht.

Mehr als 1100 türkische Wissenschaftler und über 300 Unterstützer aus dem Ausland hatten eine Petition unterzeichnet, in der das Vorgehen der Sicherheitskräfte im Kurdengebiet heftig kritisiert wird. In Südostanatolien liefern sich kurdische PKK-Rebellen seit Wochen schwere Gefechte mit Armee und Polizei. Obwohl das Blutvergießen, bei dem allein seit Dezember mehr als 160 Zivilisten starben, zum Teil auf das Konto der PKK geht, konzentriert sich die Petition ganz auf die Staatsmacht, der „Massaker“ vorgeworfen werden.

Präsident Recep Tayyip Erdogan griff die Unterzeichner deshalb scharf an und warf ihnen vor, die PKK gegen den Staat zu unterstützen. Linientreue Staatsanwälte leiteten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Verbreitung von Terror-Propaganda ein. Insgesamt 18 Akademiker wurden vorübergehend festgenommen. In mindestens einem Fall tauchten wie bei einem Einsatz gegen gefährliche Terroristen vor dem Wohnhaus eines Betroffenen schwer bewaffnete Beamte der Anti-Terror-Polizei auf.

Die EU nannte den Druck auf die Akademiker von einer „extrem beunruhigenden Entwicklung“ und erinnerte den Beitrittskandidaten Türkei an seine rechtsstaatlichen Verpflichtungen. Auch wenn Terror zu verurteilen sei, müsse der Kampf dagegen rechtsstaatlich geführt werden. Ankara aber „zerschlägt den Rechtsstaat“, twitterte der frühere EU-Botschafter in Ankara, Marc Pierini.

Merkel will die Probleme ansprechen

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Davutoglu am Freitag zu den Regierungskonsultationen empfängt, kündigte in ihrem Video-Podcast an, dass in Berlin auch über die Meinungsfreiheit und den Kurdenkonflikt gesprochen werden soll. Insgesamt habe die Türkei auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft noch einen langen Weg vor sich.

Auch die Botschafter der USA und Großbritanniens in Ankara verurteilten das Vorgehen gegen die Wissenschaftler in klaren Worten, ein eher seltener Schritt bei einem innenpolitischen Problem. US-Botschafter John Bass wurde deshalb sofort von Erdogans Parteifreund und Ankaraner Bürgermeister Melih Gökcek attackiert. Bass solle den Mund halten, sich bei der Türkei entschuldigen und nach Hause gehen, schrieb Gökcek auf Twitter.

Davutoglu will ebenfalls nichts von einer Kursänderung wissen. Kein demokratischer Staat akzeptiere eine bewaffnete Gruppe außerhalb der offiziellen Sicherheitskräfte auf seinem Territorium, sagte er mit Blick auf die PKK. Der Kampf in jenen Gegenden des Kurdengebiets, in denen die Rebellen einseitig Autonomiezonen ausgerufen haben, werde weitergehen, kündigte Davutoglu an: „Diese Bezirke werden gesäubert.“ Danach könne „über alles“ gesprochen werden.

Wird die EU wirklich Druck machen?

Die Frage ist, ob die EU angesichts der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage und im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ Druck auf die Türkei machen wird. Erst vergangene Woche hatte die Türkei der EU zugesagt, künftig Arbeitsgenehmigungen an syrische Flüchtlinge auszugeben, was den Abwanderungsdruck Richtung Europa abmildern könnte. Merkel hob zuletzt hervor, dass die EU die Türkei braucht. „Gute Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei sind gerade jetzt in der globalen Situation von allergrößter Bedeutung.“

Um der Kritik des Westens in Sachen Meinungsfreiheit und Kurdenkonflikt etwas entgegensetzen zu können, arbeitet Davutoglus Regierung nach Presseberichten an Reformen, die den Kurden und der kleinen christlichen Minderheit in der Türkei zugutekommen sollen. So sollen kurdische Städte und Dörfer ihre alten Namen wiedererlangen und die vom Staat im Zuge der Türkifizierung der vergangenen Jahrzehnte verordneten türkischen Namen ablegen können. Die größte Stadt des Kurdengebietes, Diyarbakir, würde dann Amed heißen. Zudem sollen Durchsagen auf Kurdisch auf Flughäfen und in Flugzeugen erlaubt werden.

Gleichzeitig will Ankara laut den Berichten die Rückgabe von enteignetem Eigentum an die Christen beschleunigen. Die Armenier sollen das Recht erhalten, häufiger als bisher Gottesdienste in der Inselkirche Aghtamar zu feiern.

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