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Politik: Türkei: Freiheit ist die Freiheit, die wir meinen

Selten einmütig hat das türkische Parlament in der Nacht zum Donnerstag die grundlegenste Reform der Verfassung verabschiedet, seit diese dem Land vor 20 Jahren vom Militär diktiert wurde. Mit den 34 beschlossenen Verfassungsänderungen soll die Demokratisierung der Türkei einen entscheidenden Schritt vorangebracht und das Land für den Beitritt zur EU fit gemacht werden.

Selten einmütig hat das türkische Parlament in der Nacht zum Donnerstag die grundlegenste Reform der Verfassung verabschiedet, seit diese dem Land vor 20 Jahren vom Militär diktiert wurde. Mit den 34 beschlossenen Verfassungsänderungen soll die Demokratisierung der Türkei einen entscheidenden Schritt vorangebracht und das Land für den Beitritt zur EU fit gemacht werden. Viele der Veränderungen sind für die Türkei tatsächlich geradezu revolutionär: Unter anderem werden Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausgeweitet, Minderheitenrechte gestärkt, Parteiverbote erschwert, die Todesstrafe eingeschränkt und der Einfluss des Militärs begrenzt.

In letzter Minute

Kurz vor Fristablauf erfüllt die Türkei damit einen großen Teil der Reformaufgaben, die ihr die Europäische Union für dieses Jahr aufgetragen hatte - zumindest formal. Entscheidend für die Demokratisierung der Türkei und damit auch für den Annäherungsprozess an die EU wird aber die Umsetzung der neuen Verfassungspostulate in geltendes Recht sein, die nun vom Parlament zu leisten ist. Und da könnte es mit der neuen Eintracht nicht nur in der Volksvertretung, sondern auch innerhalb der Regierungskoalition bald wieder vorbei sein.

Immerhin 474 von 494 anwesenden Abgeordneten stimmten dem Reformpaket zu, aus dem nach zweiwöchigen Debatten im Plenum lediglich ein wichtiger Komplex mangels Mehrheit gestrichen werden musste: Vorausblickend meinten die Abgeordneten, dass die Türkei noch etwas Zeit hat, bis die Abgabe von Souveränitätsrechten an die EU aktuell wird. Mit den übrigen Reformen schaffte Ankara es aber, den meisten Anforderungen der Union gerecht zu werden. Sie waren in der Beitrittspartnerschaft als "kurzfristige Kriterien" formuliert worden und damit bis Ende dieses Jahres zu erfüllen. In einem Punkt ging das Parlament sogar weiter: Zur Todesstrafe verlangte die EU zunächst nur die Beibehaltung des seit 1984 geltenden Hinrichtungs-Moratoriums und erst bis Ende 2004 die Abschaffung. Verabschiedet wurde aber schon jetzt eine weitgehende Einschränkung der Todesstrafe. Sie darf nur noch im Krieg und gegen Terroristen verhängt werden.

Staatsfeindlich denken erlaubt

Trotzdem ist die Verfassungsreform weder innerhalb der Türkei noch außerhalb unumstritten. Zur Einschränkung der Todesstrafe etwa merken Kritiker an, die meisten Todesurteile würden ohnehin wegen Terrorvorwürfen verhängt. Über den praktischen Nutzen der anderen Reformen wird die nun anstehende Übersetzung in Gesetzestexte entscheiden, auf die auch die EU-Kommission in Brüssel ein scharfes Auge richten wird. In EU-Kreisen wird das Reformpaket zwar grundsätzlich begrüßt, aber auch schon auf Widersprüche zur Gesetzeslage hingewiesen, etwa am Beispiel Meinungsfreiheit: Die Verfassung erklärt staatsfeindliche "Gedanken" nun nicht mehr für verboten; der Artikel 312 des Strafgesetzbuches, nach dem Dissidenten aller Couleur bisher wegen ihrer Äußerungen abgeurteilt werden, ist aber weiter in Kraft.

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