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Türkei: Schlichter und Paschas

Die Festnahmen von Ex-Generälen unter Putschverdacht verschärfen die Spannungen in der Türkei – und erschweren Reformen.

Die Haftbefehle gegen mehr als 30 hohe Offiziere und Ex-Generäle unter Putschverdacht in den vergangenen Tagen sind eine historische Wegmarke für die Türkei, da sind sich alle einig. Doch darüber, ob es gut war, das Tabu der Unantastbarkeit der „Paschas“ zu zerstören, gehen die Meinungen weit auseinander.

Viele applaudieren den Staatsanwälten und sprechen von einer Stärkung der Demokratie. Nie zuvor hatte es eine Anklagebehörde gewagt, Spitzenvertreter der Armee anzutasten. Auch Generäle müssen sich in der Türkei ab sofort vorsehen, wenn sie sich an Plänen zum Sturz der Regierung beteiligen. Doch die Generäle können nach wie vor mit der Unterstützung von Teilen der Öffentlichkeit und der Bürokratie rechnen. Sie sehen in den Ereignissen keinen demokratischen Befreiungsschlag, sondern die Vorboten eines Unrechtsstaates.

Über Jahrzehnte war die türkische Armee die mächtigste Institution im Land, vom Volk verehrt und von Politikern gefürchtet. Doch damit ist es vorbei. EU-Reformen und eine selbstbewusstere Öffentlichkeit haben dafür gesorgt, dass die Macht der Militärs nicht mehr ungefragt hingenommen wird. Ein Staatsstreich oder eine Drohung mit einem Umsturz kommen angesichts dieser Lage für die Armee kaum noch infrage – als sie vor drei Jahren das letzte Mal mit einem Sturz von Recep Tayyip Erdogan drohten, bekamen die Militärs wenig später die Quittung in Form eines Erdrutschsieges des verhassten Premiers bei vorgezogenen Neuwahlen. Die Vorstellung, dass eine vom Wähler nicht legitimierte Institution wie die Armee eine Wächterrolle über die Politik eines Landes ausübt, ist nach westlichem Verständnis unvereinbar mit den Grundsätzen einer Demokratie. In der Türkei ist das anders. Ein Teil der Bevölkerung und große Teile der Eliten betrachten die Armee als Rettungsring. Bekommt dieser Rettungsring Löcher, wie durch die Massenfestnahmen von Offizieren, dann wächst in diesem Teil der Gesellschaft die Furcht.

Erdogans Gegner sind überzeugt, dass er die Türkei in den islamischen Gottesstaat führen will. Der zweimalige Regierungsauftrag der AKP durch die Wähler, die EU-Reformpolitik und die liberale Wirtschaftspolitik zählen aus dieser Sicht nicht. Auch die Tatsache, dass die Türkei nach sieben Jahren angeblich islamistischer Regierung heute freier, weltoffener und pluralistischer ist als jemals zuvor, lassen die Erdogan-Gegner nicht gelten. Hinter dieser verbissenen Ablehnung steht nicht zuletzt das Unbehagen über den Aufstieg einer neuen Gesellschaftsschicht frommer Anatolier, die unter Erdogan zu Geld gekommen ist und sich anschickt, den alten Eliten ihren Platz streitig zu machen.

Der Regierungschef muss sich vorwerfen lassen, äußerst dünnhäutig auf Kritik zu reagieren. Erst am Freitag attackierte er wieder die Medien des Landes wegen einer angeblich übertrieben schwarzseherischen Berichterstattung, die der Wirtschaft schade. Diese Polarisierung wird es der türkischen Politik schwer machen, anstehende Reformwerke im Konsens anzugehen. Am wichtigsten wäre die Ausarbeitung einer neuen, demokratischeren Verfassung – die derzeitige wurde vor fast 30 Jahren nach einem Militärputsch von den Generälen diktiert. Eine Justizreform tut ebenfalls not, um die Türkei in ihrer Demokratisierung und in ihrer EU-Bewerbung weiterzubringen.

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