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Türkei: Schweizer Nein könnte Europa-Skeptiker stärken

In den Zeitungen ist von einem "Sieg der Islamophobie" die Rede, die Regierung kritisiert ein mittelalterlich-engstirniges Verständnis vom gesellschaftlichen Zusammenleben mitten in Europa: Das Nein der Schweizer zum Neubau von Minaretten stößt in der Türkei auf scharfe Kritik.

Angesichts der zahlreichen Mahnungen aus Europa, den türkischen Christen mehr Rechte zu gewähren, erscheint das Schweizer Votum aus türkischer Sicht als weiterer Beweis europäischer Heuchelei. Experten erwarten deshalb, dass das Ergebnis jene Kräfte in der Türkei stärken wird, die aus Enttäuschung über Europa für eine stärkere Hinwendung zur islamischen Welt plädieren.

"Uneuropäisch" - wie oft haben sich die Türken dieses Wort in den vergangenen Jahren anhören müssen, wenn die EU wieder einmal über Reformrückstände am Bosporus schimpfte. Nach dem Schweizer Referendum kann die Regierung in Ankara das Schlagwort nun selbst ins Feld führen: "Die Schweiz liegt zwar in Europa, hat Europa aber nicht verinnerlicht", sagte Kulturminister Ertugrul Günay am Montag. In der Türkei sind Kirchtürme schließlich nicht verboten. Überhaupt sei er dagegen, Grundwerte wie die Religionsfreiheit bei Volksabstimmungen zur Disposition zu stellen, sagte der Minister.

Dabei erwarten Vertreter der rund 120.000 Türken in der Schweiz nach dem Referendum keine gravierenden Änderungen in ihrem Alltag. "Die meisten unserer Moscheen haben ohnehin kein Minarett", sagte Kahraman Tunaboylu, der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in der Schweiz, dem türkischen Nachrichtensender NTV.

Türken fühlen sich in Europa nicht erwünscht

Dass die Türken dennoch von einer "Katastrophe" sprechen, wie es der in der Schweiz lebende Verbandsfunktionär Ramazan Gül tut, liegt vor allem an der Symbolwirkung des Referendums. Ein weiteres Mal haben die muslimischen Türken in Europa die Erfahrung gemacht, dass sie nicht erwünscht sind. Die türkische Europa-Begeisterung, durch die öffentliche Ablehnung der Ankaraner EU-Bewerbung durch mächtige europäische Politiker wie Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy ohnehin schon beträchtlich lädiert, hat einen weiteren Dämpfer erhalten.

Für den türkischen Normalbürger ist es dabei völlig unerheblich, dass die Schweiz nicht Mitglied in der EU ist, sagt die Europa-Expertin Beril Dedeoglu von der Istanbuler Galatasaray-Universität. "Die Leute sehen die Schweiz als Mitglied Europas." Deshalb werde sich nun das Gefühl verstärken, von den Europäern abgelehnt zu werden. "Die wollen uns nicht, weil wir Muslime sind", laute die bereits weit verbreitete Grundstimmung.

Sorge über mögliche Abkehr vom Westen wächst

Eine Kombination aus der wachsenden Türkei-Skepsis in Europa und der größer werdenden Europa-Skepsis in der Türkei könnte nach Dedeoglus Worten dazu führen, dass in Ankara jene Kräfte an Oberhand gewinnen, die für eine Abwendung von Europa plädieren. "Die Logik lautet: Lassen wir das mit der EU und bauen wir lieber unsere Beziehungen hier in der Region aus." Diese Tendenz sei in der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bereits vorhanden.

Tatsächlich hatte Erdogans Regierung in den vergangenen Monaten mit Initiativen zur Verbesserung der Beziehungen zu Ländern wie Iran und Syrien neue Sorgen über eine mögliche Abkehr des Landes vom Westen ausgelöst. Offiziell zumindest sieht Ankara diese Bemühungen jedoch nicht als Widerspruch, sondern als notwendige Ergänzung zur türkischen EU-Bewerbung. Bis zum Jahr 2023, dem hundertjährigen Jubiläum der Republik, könne die Türkei EU-Mitglied und ein "Schlüssel-Akteur" auf internationaler Bühne sein, sagte Erdogans Außenminister Ahmet Davutoglu dem US-Magazin "Newsweek".

Wie selbstkritische Stimmen in der Türkei nach dem Schweizer Referendum anmerkten, hat das Land auf dem Weg zu diesem Ziel aber noch viel zu tun. Auch in der Türkei sei beim Thema religiöse Toleranz längst nicht alles zum Besten bestellt, schrieb ein Leser der Online-Ausgabe der radikalen Tageszeitung "Radikal" am Montag. "Wenn es in diesem Land eine Volksabstimmung über die Frage gäbe, ob Kirchen oder Synagogen gebaut werden dürfen, würde es als Antwort ein klares 'Nein' geben."

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