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Frank-Walter Steinmeier, Bundesaußenminister.

© REUTERS

Türkei und Russland: Wo bleibt Steinmeiers Bekenntnis zu unseren Grundwerten?

Wohin führt Steinmeiers Politik des Dialogs und des Pragmatismus gegenüber der Türkei und Russland? Die Bilanz ist dürftig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Deutsche Außenpolitik ist ein Muster an Gesprächsbereitschaft und Pragmatismus. Ist sie auch ein Vorbild an Prinzipientreue? Natürlich soll sie das Gespräch mit Moskau oder Ankara nicht abbrechen. Das fordert ja auch niemand – so sehr hat unsere Gesellschaft die Notwendigkeit des Dialogs verinnerlicht. Gespräch und Pragmatismus sind jedoch kein Selbstzweck. Wer sich auf sie beruft, muss regelmäßig Bilanz ziehen: Was haben wir damit erreicht?

Die Antworten sind bedrückend. Die Türkei ist nach Einschätzung der Bundesregierung zur „zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“ im Nahen und Mittleren Osten geworden. Sie unterstützt Terrororganisationen wie die Hamas, die gegen Israel bombt; und in Syrien nicht die säkulare Opposition gegen Staatschef Assad, sondern die Islamisten, die auch Feinde des Westens sind. Im Innern missbraucht Präsident Erdogan den Putsch, um die Opposition, Gerichte und Medien ihrer Funktion für Machtbalance und Gewaltenteilung zu berauben. Der Nato-Partner Türkei verhöhnt die Grundwerte der Allianz. Er tut dies nach Jahren, in denen Deutschland die EU-Beitrittsgespräche trotz begründeter Bedenken vorangetrieben hat. Da läuft also etwas gründlich falsch.

Auch die Bilanz des Dialogs mit Russland ist bitter. Außenminister Steinmeier bittet geradezu um Fortschritte, die seine Gesprächsbereitschaft rechtfertigen könnten, hört aber nur Nein. Waffenruhe für Aleppo, um die Eingeschlossenen mit Lebensmitteln zu versorgen? Moskau will drei Stunden zugestehen, wohlwissend, dass die Aufgabe so nicht zu leisten ist. Im Ukrainekrieg stößt der Kreml Drohungen aus und erklärt die nächsten Gespräche über die Umsetzung des Minsker Friedensplans für überflüssig. Eine Ohrfeige für Steinmeiers Dialogbereitschaft. Dies geschieht alles, nachdem der Westen moderat auf Moskaus Aggression gegen die Krim und die Ostukraine reagiert, nur symbolische Sanktionen verhängt und der Ukraine die erhoffte Aufrüstung zur Selbstverteidigung verweigert hatte.

Im Flüchtlingsdrama kann die Türkei nicht mehr erpressen, es gibt Alternativen

Wo bleibt das tätige Bekenntnis zu unseren Grundwerten? Zur Verteidigung der Freiheit, der Selbstbestimmung, des Prinzips, dass Grenzen nicht mit Gewalt verändert werden dürfen? Und zur „Responsibility to Protect“? Volksgruppen, die von ihren Machthabern verfolgt werden, wie in Syrien und auf der Krim, haben Anspruch auf Schutz.

Dem Menschen Steinmeier sind die Grundrechte wichtig. Er ist kein Zyniker. Aber der Außenminister in ihm verbeißt sich manchmal zu sehr in die angeblich unausweichlichen Zwänge von Dialog und Realpolitik. Außenpolitik darf sich die Freiheit zur regelmäßigen Neubewertung nehmen. Und muss das sogar tun. Im Flüchtlingsdrama ist die Türkei nicht mehr so unverzichtbar wie vor einem halben Jahr. Europa soll das Flüchtlingsabkommen nicht mutwillig kündigen, hat jetzt aber Alternativen, falls es zu einem neuen Massenansturm käme. Wir sind nicht mehr erpressbar. Um Moskau von neuer Aggression abzuschrecken, muss die Nato keine Panzer rollen lassen. Man darf aber über weitere Sanktionen nachdenken, wenn Moskaus Zynismus sich fortsetzt, und muss nicht allein über deren Aufhebung sprechen.

Die richtige Mischung macht’s: prinzipientreu, gesprächsbereit, realistisch. Diese Glaubwürdigkeit hat mehr Bedeutung als die Frage, ob es ein „Büroversehen“ zwischen unseren Ministerien gab.

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