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© AFP

Türkei: Verachtete Helden

Verwitwet, verwaist, verarmt, verbittert: Zehntausende sind in der Türkei in den letzten 25 Jahren beim Kampf gegen die PKK gestorben. Doch der Staat dankt es ihren Angehörigen schlecht. Kaum sind die Toten unter der Erde, sind sie vergessen. Die Armee wird verehrt, die einfachen Soldaten gelten nichts

Zehra hält sich am weißen Marmor des Grabes fest, manchmal schüttelt sie ein Schluchzen. Jeden Tag kommt sie hierher, zum Soldatenfriedhof von Istanbul, seit ihr Sohn Hasan vor eineinhalb Jahren getötet wurde – gefallen als 22-Jähriger beim Wehrdienst in Südostanatolien, bestattet in einem von Hunderten solcher Gräber, die hier, mit türkischen Fahnen geschmückt, in Reih und Glied stehen.

Mit einem Zipfel ihres Kopftuches wischt Zehra die Tränen ab und atmet durch, um von ihrem Hasan zu erzählen, den ein winziges Foto am Grabstein als lachenden Jungen in Schuluniform zeigt: Das Gymnasium hatte er abgeschlossen, und er hatte feste Arbeit, als er eingezogen wurde. Zu seinem letzten Geburtstag am Silvestertag 2006 hat Zehra ihn noch besucht bei seiner Truppe in Sirnak, mehr als 1600 Kilometer von hier im Kurdengebiet. „Mutter, sorg dich nicht, ist ja nicht mehr lange“, hat er sie damals getröstet. Kein halbes Jahr später war er tot. Eine 20-jährige Ehefrau und zwei kleine Kinder hat er hinterlassen. Sie leben nun bei Zehra. „Warum nur“, wimmert die Mutter immer wieder und streichelt den weißen Marmor auf dem Grab ihres Sohnes.

Tausende solcher Soldatengräber gibt es in der Türkei, Tausende solcher Mütter – allein in den letzten Tagen sind es wieder einige mehr geworden. Nach zwei PKK-Angriffen wurden am Wochenende zehn junge Männer mit militärischen Ehren beerdigt, der jüngste von ihnen noch keine 20 Jahre alt. Zehntausende Menschen sind in den letzten 25 Jahren im Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Rebellengruppe PKK getötet worden. Während tote PKK-Kämpfer in aller Stille von ihren Familien beigesetzt werden, erhalten gefallene Soldaten Staatsbegräbnisse, an denen oft tausende Menschen teilnehmen. Doch kaum sind die Märtyrer, wie gefallene Soldaten in der Türkei genannt werden, unter der Erde, ist es aus mit der Solidarität. Ein Blick hinter die Fassade eines Staates, der die Armee verehrt – aber die einfachen Soldaten verachtet.

Vor allem am Wochenende ist der Soldatenfriedhof voller Mütter wie Zehra, voller gebrochener Väter und Witwen und Halbwaisen, deren Leben vom Krieg in Südostanatolien zerstört ist. „Endstation Heldenfriedhof“ steht auf der Straßenbahn, mit der sie aus den entlegensten Vierteln der Stadt hierherkommen.

Etwas Trost und ein Glas Tee bekommen die Eltern, Witwen und Waisen beim „Verein der Angehörigen der Gefallenen“, der unmittelbar neben dem Soldatenfriedhof sein Hauptquartier unterhält. Die Familien von rund 15 000 gefallenen Soldaten und Polizisten gehören dem Verein landesweit an. Trotzdem sind die Vereinsräume ärmlich und an einem kühlen Frühjahrstag ungemütlich kalt. Für die Heizkosten fehle leider das Geld, entschuldigt der Vorsitzende Mehmet Güner die Temperatur im Beratungsraum.

Mehmet Güner und seine Mitarbeiter empfangen die Angehörigen von gefallenen Soldaten, die bei ihnen Rat und Hilfe suchen – so wie der 24-jährige Yusuf und sein knapp 30-jähriger Cousin, die Güner mit Handschlag begrüßt. Der Cousin ist auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub, seit er als Wehrdienstleistender im Gefecht gegen die PKK schwer verletzt wurde. Eine Hälfte seines Gesichts ist von Brandnarben entstellt, zum Sprechen ist er zu verschüchtert. „Nun sprich doch, erzähl doch“, versucht Yusuf ihn zu ermuntern, doch der junge Mann schüttelt den Kopf und blickt stumm auf den Boden, bis Yusuf sich erbarmt und für ihn spricht.

„Wir wollten fragen, ob Sie meinem Cousin weiterhelfen können, er ist ja Kriegsversehrter, wie Sie sehen“, holt Yusuf aus: Bei ihm zu Hause kenne er einen Beamten, der Mietbeihilfe bekomme wegen einer Kriegsverletzung, „und nun wollten wir fragen, ob mein Cousin als Kriegsversehrter auch einen Mietzuschuss bekommen kann“. Der Vereinsvorsitzende schiebt einen Bürostuhl an den Beratungstisch und lädt die beiden jungen Männer mit einer Geste ein, gegenüber Platz zu nehmen. „Er ist kein Beamter oder Offizier, oder?“, fragt er. „Nein, aber Kriegsveteran“, entgegnet Yusuf. „Dann hat er keinen gesetzlichen Anspruch auf staatliche Mietbeihilfe“, bedauert der Vereinsvorsitzende. Wie oft er diese bittere Auskunft schon hat erteilen müssen, das kann Mehmet Güner gar nicht mehr zählen. Denn die meisten gefallenen Soldaten in diesem Krieg – zwei von drei Gefallenen – sind Wehrpflichtige. Zwischen 20 und 25 liegt das Durchschnittsalter.

Und noch eines ist ihm im Lauf der Jahre aufgefallen: „Alle Gefallenen stammen aus armen Familien“, konstatiert Güner bei einem weiteren Glas Tee in seinem ebenfalls ungeheizten Arbeitszimmer. „Kein einziges Kind aus reichem Haus kommt in diesem Krieg ums Leben.“

Wie das funktioniert, weiß jeder in der Türkei, und Güner kann es bestätigen: „Sobald der Sohn einer reichen Familie einberufen wird zum Wehrdienst, sorgen die Angehörigen mit ihren Verbindungen dafür, dass er ihn irgendwo in der Westtürkei ableisten kann.“

Atemberaubend offen wirken diese Worte zwischen den türkischen Fahnen, den Atatürk-Porträts und den patriotischen Losungen, mit denen das Arbeitszimmer dekoriert ist, doch Güner lässt sich von seinem eigenen Nationalismus nicht beirren. „Schauen Sie, ich bin seit zehn Jahren Vorsitzender dieses Vereins, und ich weiß, wovon ich spreche“, sagt er und betont es noch einmal: „Es sind ausschließlich die Kinder der Armen, die in diesem Krieg sterben.“ Das gelte übrigens unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit: „Unter den gefallenen Soldaten sind Kurden ebenso wie Türken.“ Eine Beobachtung, die von der regierungsamtlichen Statistik gedeckt wird. Schließlich sind Kurden in der Türkei ebenso wehrpflichtig wie alle anderen Staatsbürger auch.

Viel kann der Verein nicht tun für seine unglücklichen Mitglieder. Dem kriegsversehrten Cousin, der seine beiden Kinder zur Schule schicken will, vermittelt Mehmet Güner schließlich immerhin ein privates Stipendium von mildtätigen Mitbürgern. Doch Yusuf hat auch selbst ein Anliegen. „Herr Vorsitzender, ich wollte auch was fragen“, sagt er, „mein Vater ist als Soldat gefallen, und ich bekomme von der Armee einfach keine Bescheinigung. Ich bin schon überall gewesen, aber die Militärbehörden sagen, sie könnten die Unterlagen nicht mehr finden. Sogar beim Heeresoberkommando war ich schon in Ankara, aber die gucken dich nicht mal an.“

Kopfschüttelnd hört Mehmet Güner dem Jungen zu. Kein ungläubiges Kopfschütteln ist es, sondern ein wissendes, denn die Klage ist dem Vereinsvorsitzenden nur zu geläufig. „Viele werden bei den Militärbehörden gar nicht erst zur Türe hereingelassen, besonders nicht Mütter im Kopftuch“, erzählt er von den Gebräuchen der türkischen Armee, die sich außer als Beschützer der Nation vor kurdischen Separatisten auch als Wahrer der säkularen Werte von Staatsgründer Atatürk versteht. „Da werden die weinenden Mütter der gefallenen Soldaten glatt fortgeschickt: Wenn sie ein Kopftuch tragen, dürfen sie nicht hinein.“

Mehmet Güner redet sich in Rage. „Bei den offiziellen Zeremonien zur Beisetzung der Soldaten gehen die Kommandanten zu den Angehörigen, sie umarmen die verschleierte Mutter des Gefallenen und küssen dem vollbärtigen Vater die Hand. Sie versichern ihnen, dass der Staat ihr Opfer würdigt, dass er das Blut ihres Sohnes nicht ungerächt lassen, dass er für die Familie sorgen werde. Doch sobald das Grab mit Erde aufgefüllt ist, ist die Sache erledigt. Wenn die Familie später etwas von ihnen will, dann heißt es: Mit Kopftuch? Lasst sie nicht rein.“ Erschöpft hält Güner inne. „So geht das doch nicht“, sagt er.

Doch auf Mehmet Güner hören die Kommandanten nicht, obwohl er für tausende Familien spricht, die für das Trugbild von der homogenen türkischen Nation das größte Opfer gebracht haben. Auch Mehmet Güners Vater fiel als Soldat bei einer Militäraktion zur inneren Sicherheit, als er selbst noch ein Kleinkind war und noch bevor der PKK-Krieg ausbrach. Über die Details weiß er nicht viel mehr als Yusuf über das Schicksal seines Vaters. Der starb bei einer Panzereinheit im südostanatolischen Diyarbakir, als Yusuf zwei Jahre alt war. Wie er genau ums Leben kam, weiß Yusuf aber nicht, ebenso wenig, wie er den Dienstgrad seines Vaters kennt oder die staatlichen Hilfen, auf die er eventuell Anspruch hätte. Anträge über Anträge hat er schon gestellt, ist von Behörde zu Behörde gereist und hat monatelang auf Antworten gewartet – vergeblich. „Mein Vater ist als Soldat für dieses Land gefallen, und was tut dieses Land für uns?“, fragt er. „Ich habe nicht mal zur Schule gehen können, Arbeit gibt mir der Staat auch nicht. Nur Steuern zahlen darf ich. Meinen Wehrdienst habe ich auch geleistet, ohne zu jammern. Aber ich bekomme nichts, nicht einmal eine Antwort auf meine Fragen. Ich habe kein Vertrauen mehr in dieses Land.“

Bekümmert hört ihm der Vereinsvorsitzende zu. Zu oft hört er solche Klagen von seinen Mitgliedern, den Hinterbliebenen von den tausenden an der Front verfeuerten jungen Männern der Türkei. Verwitwet und verwaist, verarmt und verbittert, vom Staat verlassen und vergessen, klammern sich die Angehörigen der Kriegsgefallenen an den Glauben und an die Hoffnung, dass ihr Opfer zumindest nicht völlig sinnlos war und dass ihre Söhne, Väter und Ehemänner im gerechten Kampf für das Vaterland gefallen sind.

Besonders bitter vor Enttäuschung werden sie deshalb immer dann, wenn in Ankara über eine politische Lösung des Kurdenkonfliktes geredet wird, sagt Güner – wenn wieder eines der sogenannten Rückkehrerprogramme aufgelegt wird, bei denen den PKK-Kämpfern straffreie Rückkehr ins Land und Starthilfen für die Integration ins zivile Leben angeboten werden, um den Konflikt zu beenden. „Dann sagen unsere Mitglieder: Wären wir doch PKK-Terroristen geworden! Denen werden sämtliche Rechte zugesprochen, aber wenn unsere Kinder sterben, dann bekommen wir keinerlei Hilfen.“

Das ist das Stichwort, auf das plötzlich auch Yusufs kriegsversehrter Cousin reagiert, der bisher kein Wort gesagt hat. Auf einmal fährt er hoch. „Ich gehe wieder da runter in den Krieg“, sagt der junge Veteran. „Aber diesmal als Vaterlandsverräter.“

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