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Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

© AFP

Update

Türkei: Verfassungsreferendum: Prüfung für Erdogan

Schicksalstag für türkische Verfassung: Am 30. Jahrestag des Militär-Putsches stimmen die Türken am Sonntag über ihre Reformen ab. Das Referendum ist auch eine Vertrauensabstimmung über Arbeit des Premiers Erdogan.

Was hat der Preis eines Herrenhemdes mit der Verfassung eines Landes zu tun? In der Türkei eine ganze Menge. Wenige Tage vor der am Sonntag anstehenden Volksabstimmung über die umfassendste Verfassungsreform, die das Land in den letzten Jahrzehnten gesehen hat, sorgt die Vorliebe von Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu für feinen und teuren Zwirn für Schlagzeilen. Nach heftiger Kritik an seinen italienischen Edelhemden für 260 Euro das Stück ließ Kilicdaroglu nun verkünden, dass er auf wesentlich preiswertere Ware umsteigt und ab sofort denselben Istanbuler Maßschneider bemüht wie sein Rivale, Premier Recep Tayyip Erdogan.

Ob das für Kilicdaroglu den Durchbruch bringt, werden die Türken am Sonntagabend nach Schließung der Wahllkokale erfahren. Seit Wochen streiten sich Regierung und Opposition wie im Wahlkampf über alles Mögliche - nicht nur über Herrenhemden, sondern auch darüber, welcher Politiker denn nun das luxuriöseste Schwimmbecken zu Hause hat.

Nur hin und wieder wird über das Thema debattiert, um das es eigentlich geht: um die 26 Punkte umfassende Verfassungsänderung, die Erdogan per Referendum in Kraft setzen lassen will. Der Wahltag ist zugleich der 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980, dem die Türken die derzeitige, von einem anti-demokratischen Geist durchwirkte Verfassung zu verdanken haben.

Ein Jahr vor der nächsten regulären Parlamentswahl sieht die Opposition das Referendum aber nicht so sehr als Abrechnung mit den Putschisten nutzen, sondern vielmehr als Generalabrechnung mit der Regierung – und die meisten Umfragen sagen ein knappes Ergebnis voraus. Erdogan liegen angeblich Befragungen vor, nach denen bis zu 60 Prozent der Türken das Verfassungspaket annehmen wollen, doch andere Umfragen sehen das Nein-Lager knapp vorn. Fest steht, dass Erdogan und seine Leute nervös sind. Es reiche, wenn das Paket angenommen werde, egal mit welcher Mehrheit, sagte der Premier vor einigen Tagen.

Mit einem Millionenaufwand für Plakate, Anzeigen und Broschüren sowie Wahlkampfreden überall im Land kämpfen das Ja- und das Nein-Lager um Stimmen. Allein Erdogan wird bis zum Wahlrag rund 50 Auftritte absolviert haben. Seiner Regierungspartei AKP steht ein Nein-Block gegenüber, der die größten Oppositionsparteien umfasst: Kilicdaroglus linksnationale CHP und die rechtsgerichtete MHP ebenso wie die Kurdenpartei BDP, die ihre Anhänger zum Boykott aufruft. Schon die Beschlussfassung im Parlament im Frühjahr, die den Weg zum Referendum freimachte, war ein reines AKP-Projekt.

Dabei würde eine große Mehrheit der Türken einigen Änderungen in Erdogans Paket sofort zustimmen. So sollen die Rechte von Frauen, Kindern, Behinderten und Gewerkschaften gestärkt, die politische Macht der Militärs weiter eingeschränkt werden. Von hoher symbolischer Bedeutung ist zudem das Vorhaben, die juristische Immunität der Putschführer von 1980 aufzuheben. Die Türken können am Sonntag allerdings nur über das Gesamtvorhaben abstimmen, nicht über einzelne Vorschläge.

Nicht nur daran stößt sich die Opposition. Die CHP als Vertreterin der traditionellen Eliten der Türkei kritisiert vor allem eine geplante Justizreform. Erdogan will den Aufbau des Verfassungsgerichts und eines Gremiums zur Ernennung von Richtern und Staatsanwälten neu ordnen. Gegner sehen das als Versuch des Premiers, die als regierungskritisch bekannte Justiz an die Kandare zu nehmen; im Hintergrund steht der Dauervorwurf, Erdogans AKP bereite die islamistische Machtergreifung vor. Die Regierung weist die Vorwürfe zurück und betont, die EU habe die vorgesehenen Reformen abgesegnet.

Weit wichtiger als die inhaltlichen Vorbehalte der Opposition ist für die Regierungsgegner die Chance, Erdogan einen Denkzettel zu verpassen. Seit November 2002 hat die AKP alle landesweiten Wahlen gewonnen – nun könnte sie erstmals verlieren. Fällt das Verfassungspaket am Sonntag durch, wird das der Opposition neuen Schwung geben. Der sieggewohnte Erdogan wäre gedemütigt und politisch angezählt.

Eine Schlüsselrolle kommt den kurdischen Wählern zu. Nach Umfragen wollen viele Kurden trotz des Boykottaufrufes der BDP zur Urne gehen. Mit einer Rede in Diyarbakir, der größten Stadt des Kurdengebietes, und dem Versprechen einer breiter angelegten Verfassungsreform im kommenden Jahr umwarb Erdogan diese Wählergruppe. Ob es am Ende für den Premier reichen wird, weiß niemand.

Vielen Türken falle es schwer, sich zu einem Ja durchzuringen, weil sie befürchteten, dass die AKP alle Macht im Land an sich reißen wolle, sagte der Istanbuler Soziologe Ferhat Kentel unserer Zeitung. „Auf der einen Seite steht die Hoffnung auf Veränderung, auf der anderen Seite die Frage, ob man Erdogan vertrauen soll.“

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