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Gewaltsam löste die Polizei wie hier in Istanbul auch am Wochenende wieder prokurdische Demonstrationen auf.

© Yasin Akgul/AFP

Türkei: Wie die Kurden in Erdogans Visier gerieten

Nach den Anhängern der Gülen-Bewegung geht Erdogan jetzt massiv gegen die Kurden vor. Viele in der Türkei haben den Glauben an Rechtsstaat und Politik verloren.

Ahmet Yilmaz* ist wütend. Er steht in seinem Lokal im Istanbuler Viertel Tarlabasi, in dem viele Kurden leben und das inzwischen auch viele syrisch-kurdische Flüchtlinge beherbergt, und kann es nicht fassen, dass die türkischen Behörden Abgeordnete inhaftieren, einfach so, als wären sie Kriminelle. „Das ist wie ein Ballon, der wächst und wächst, bis er endlich platzt“, sagt der 40-jährige Koch aus Diyarbakir. „Die AKP-Regierung bläst diesen Ballon immer weiter auf. Eines Tages wird er ihnen vor dem Gesicht einfach zerplatzen.“ Seine Kollegen nicken.

Gegen neun HDP-Abgeordnete wurde am Freitag wegen Terrorvorwürfen Untersuchungshaft verhängt, unter ihnen die Partei-Doppelspitze Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, als auch Fraktionschef Idris Baluken. Bei Polizeirazzien in der Nacht davor waren zwölf Abgeordnete der prokurdischen Partei, der drittstärksten im Parlament, festgenommen worden.

Am Freitag kursierte ein Video in den sozialen Medien, das das gewaltsame Eindringen von Polizisten der türkischen Antiterroreinheit TEM in die Privatwohnung der HDP-Ko-Chefin Figen Yüksekdag festhält. „Was fällt Ihnen ein, hier wie Banditen in meine Wohnung einzudringen?“ kann man sie rufen hören, bevor ein Beamter den Filmenden zwingt, das Handy auszuschalten. Drei der festgenommenen Parlamentarier wurden Stunden später unter Auflagen freigelassen, darunter auch der deutsch-türkische Abgeordnete Ziya Pir. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt die Partei schon lange, parlamentarischer Handlanger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein – ein Vorwurf, den die HDP entschieden zurückweist.

Auch viele Türken wählen die kurdische HDP

So sieht das auch Yilmaz. „Selahattin Demirtas ist ein gewählter Politiker“, sagt Yilmaz. „Wir haben ihn gewählt, damit er sich für unsere Rechte einsetzt, und er hat nur seine Arbeit gemacht. Hatte er jemals eine Waffe in der Hand? Hat er jemanden verletzt? Nein. Er wollte Frieden und die schmeißen ihn dafür ins Gefängnis.“

Auch am Sonntag gingen die Menschen in Istanbul auf die Straße, um gegen die Verhaftungen der kurdischen Politiker zu demonstrieren.
Auch am Sonntag gingen die Menschen in Istanbul auf die Straße, um gegen die Verhaftungen der kurdischen Politiker zu demonstrieren.

© YASIN AKGUL/AFP

Es ist nur etwas länger als ein Jahr her, als im Lokal von Ahmet Yilmaz gefeiert wurde. Als die HDP am 7. Juni 2015 allen Zweiflern zum Trotz als erste kurdische Partei mit 13,1 Prozent die Zehnprozenthürde nahm, hoffte Yilmaz zusammen mit vielen anderen, endlich zu einer Lösung der in der Türkei so lange schwelenden Kurdenfrage zu kommen.

Dabei konnte die HDP neben kurdischen Stammwählern im Südosten auch viele Türken mobilisieren. Vor allem im Westen des Landes und in Istanbul, wo die Unzufriedenheit mit der AKP seit den Gezi-Protesten 2013 stetig gewachsen war, fand die HDP, die als Dachorganisation für die Verteidigung der Rechte von Frauen, Minderheiten sowie Homosexuellen, Bisexuellen und Transgendern auftrat, großen Anklang.

HDP verhinderte die absolute Mehrheit der Erdogan-Partei

Nicht für alle war das Wahlergebnis jedoch ein Grund zur Freude: Die regierende AKP verfehlte aufgrund des HDP-Erfolges die absolute Mehrheit im Parlament und somit die nötigen Sitze, um die Verfassung im Alleingang zu ändern und das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem einzuführen. Eine Koalition kam jedoch nicht zustande. Erdogan rief Neuwahlen aus und nutzte die Zeit bis zum Wahltermin, die HDP als verlängerten Arm der PKK und Apologeten des Terrors zu dämonisieren.

Gleichzeitig riefen kurdische Aktivisten in mehreren Städten des Südostens die „Selbstverwaltung“ aus. Die AKP-Regierung reagierte mit Härte: Monatelange Ausgangssperren wurden verhängt, während türkische Sicherheitskräfte mit Panzern und anderem schweren Geschütz gegen die militante PKK-Jugendorganisation YPS vorging, die sich hinter Barrikaden, Gräben und Sprengfallen verschanzt hatte. Hunderte Menschen wurden bei den Gefechten getötet und über eine halbe Million Menschen verloren ihr Zuhause.

Obwohl der Zusammenbruch der zweijährigen Waffenruhe vor allem unter türkischen Wählern die Unterstützung für die HDP schwinden ließ, überwand die Partei auch im November knapp die Wahlhürde. Die AKP holte sich die absolute Mehrheit zurück, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit. Erdogan ging erneut zum Angriff über.

Im Mai dieses Jahres beschloss das Parlament auf Drängen des Präsidenten die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten. Obwohl die Maßnahme 138 Parlamentarier aller vier vertretenen Parteien betrifft, richtet sie sich hauptsächlich gegen die HDP, da gegen 55 der 59 prokurdischen Abgeordneten zurzeit Verfahren laufen – meist wegen Terrorvorwürfen und angeblicher Unterstützung der PKK.

"Alle haben Angst"

„Ich selbst wähle zwar die CHP“, sagt Hasan Yildiz*, ein Straßenverkäufer. „Aber ich finde diese Verhaftungen ganz falsch. Wenn gewählte Politiker Fehler gemacht haben, können sie maximal abgewählt werden. Aber einsperren darf man sie nicht. Millionen von Menschen wollten die HDP im Parlament haben, zählt deren Wille etwa nicht? Und wer garantiert denn, dass die CHP nicht als Nächstes dran ist?“ Gleich hinter seinem Verkaufskarren parkt ein Wasserwerfer der Polizei. Der Türkei ginge es nicht gut, sagt Yildiz, flüstert fast. „Alle haben Angst. Ich traue mich nicht einmal mehr, offen mit meinen Freunden am Telefon zu reden. Was, wenn die mithören und auch mich zum Terroristen erklären? In der Türkei kann das jetzt jeden treffen.

Nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli verhängte Erdogan den Ausnahmezustand, regiert das Land vorbei an Parlament und Gerichten mit Notstandsdekreten. Rund 37000 Menschen wurden seit dem Putschversuch verhaftet. Zehntausende mehr wurden über Nacht gefeuert, kritische Medien kurzerhand geschlossen. Nach den vermeintlichen Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht, geht die AKP-Regierung jetzt vor allem gegen Kurden und linke Oppositionelle vor.

Doch zu Protesten kam es in Tarlabasi nach den Verhaftungen vom Freitag kaum. Andernorts in Istanbul und der Türkei haben Polizisten vereinzelte Demonstrationen gewaltsam auseinandergetrieben, in einigen Städten wurden öffentliche Kundgebungen von den Behörden verboten.

Die Istanbuler HDP-Abgeordnete Hüda Kaya verurteilt das Vorgehen der Regierung als „illegal und gefährlich“. Von der Reaktion der EU und den Besorgnisbeteuerungen europäischer Regierungen ist sie bislang sehr enttäuscht. Es müsse etwas unternommen werden, um die Demokratie in der Türkei noch zu retten. Am Sonntag kündigt die HDP an, die Partei ziehe sich aus dem Parlament zurück – ein Protest gegen die „Regellosigkeit“ in der heutigen Türkei.

Mehr Gewalt befürchtet

Demirtas warnte bereits vor der Abstimmung über das Aufheben der Immunität vor einem Anstieg an Gewalt. Am Freitag explodierte wenige Stunden nach den Festnahmen eine Bombe in der Nähe einer Polizeistation in Diyarbakir, elf Menschen starben. Der Gouverneur machte die PKK für den Anschlag verantwortlich, in der Nacht zum Samstag bekannte sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“. Am Sonntag meldete die PKK-nahe Agentur Firat, die radikale PKK-Splittergruppe TAK sei verantwortlich.

Die PKK rief am Freitag zu Widerstand auf. Gastronom Ahmet Yilmaz befürchtet, dass vor allem junge Leute nach dem Vorgehen der Behörden gegen die HDP den Glauben an Rechtsstaatlichkeit und Parlament ganz aufgeben werden. Auch er ist besorgt, dass die Gewalt jetzt weiter zunehmen wird. „Was für eine Gerechtigkeit kann man in einem Land erwarten, in dem die Gefängnisse um vieles größer sind als die Fabriken?“ fragt er. „Mit diesen Maßnahmen signalisiert die Regierung, dass den Kurden Demokratie und legale Politik verwehrt sind.“

(* Namen geändert)

Constanze Letsch

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