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Tunesien: Es lebe die Freiheit - aber wie?

Ein Geheimpolizist, der weiter spioniert. Ein Oppositioneller, der verzeiht. Ein Islamist, der die neuen Zeiten bereits hasst. Szenen aus Tunesien, wo die arabische Revolution losging, die alte Gewissheiten fortfegte – aber keine neuen brachte.

Die harte Frühlingssonne steht hoch über dem Gewerbegebiet am Rande von Tunis, als Afifa Mbarek klar wird, dass es gefährlich für sie werden könnte. Sie ist überzeugt, dass sie das Richtige tut, deswegen ist sie hier. Sie steht auf der Straße vor dem Busdepot Ost, vor grauen Lagerhallen, Bürotürmen und dem Platz, auf dem die Linienbusse parken. Afifa Mbarek ist Abteilungsleiterin bei den städtischen Verkehrsbetrieben, und vor ihr haben sich gut 300 Männer aufgebaut, alles Busfahrer, die Fäuste schütteln und auf sie einbrüllen. „Das ist eine spontane Aktion“, ruft sie dagegen an, „ganz so wie die Revolution“. Sie versucht entschlossen zu klingen, doch ihre Stimme zittert.

Es ist ein Mittwochmittag, wenige Monate nach dem Sturz von Präsident Zine al Abidine Ben Ali. Es ist ein Tag, der ahnen lässt, welche Risiken der politische Umbruch mit sich bringt. Bislang waren die Tunesier gezwungen, über alles zu schweigen, was in ihrer Heimat geschieht. Doch am 14. Januar änderte sich das. Das Volk hat seinen Diktator bezwungen. Seither sind alle Dämme gebrochen, alles wird heftig diskutiert, es herrscht allgemeiner, allgegenwärtiger Aufruhr, und etliche Betriebe stehen still, weil die Mitarbeiter höhere Löhne verlangen.

Afifa Mbarek wischt ihre Handflächen an ihrem dunkelblauen Kostümrock ab und drückt ihren Rücken durch. Sie ist hier, um einen Busfahrerstreik zu verteidigen, der auf der mittleren Führungsebene der Verkehrsbetriebe beschlossen wurde. Ein Streik für flachere Hierarchien, mehr unternehmerische Beteiligung und gegen den immer noch amtierenden Vorstandsvorsitzenden. „Er war Teil des alten Regimes“, sagt Afifa Mbarek. „Deswegen muss er gehen.“

Doch die Busfahrer sehen das anders. Sie wollen nicht streiken, sie wollen Geld verdienen. Sie sind zu dem Depot gekommen, um gegen die Entscheidung zu protestieren, die über ihre Köpfe hinweg getroffen wurde. Sie sind angespannt, nervös, wissen nicht, wohin mit ihrer hilflosen Wut. Einer von ihnen schreit: „Das ist ein Spiel zwischen denen auf den höheren Ebenen. Sie benutzen uns, um ihre Ziele zu erreichen. Ich habe keinen Grund, mich über die Revolution zu freuen. Sie hat uns nichts als Chaos gebracht.“

Doch längst hat der Protest, hat die Revolution, die Mitte Dezember in der tunesischen Provinz ausbrach, weite Teile des Nahen Ostens erfasst. Deshalb wird es unweigerlich Signalwirkung auf die anderen Freiheitsbewegungen haben, wie der Aufbau der Demokratie im Ursprungsort des arabischen Frühlings weiter verläuft. Im Moment scheint es so, als sei bereits die fragile Übergangsordnung in Gefahr.

Tunis ist dieser Tage eine laute, raue, aufgewühlte Stadt, in der die Menschen die Freiheit ausprobieren. Die Avenue Bourguiba, die Prachtstraße im Zentrum, erstreckt sich zwischen blütenweiß getünchten Kolonialbauten. Hier und dort leuchten signalrote Graffiti auf den Fassaden: „Danke, Facebook“, ist dort zu lesen, und „Vive la Liberté“. Die Flaniermeile wirkt wie ein römisches Forum: Taxifahrer, Bankangestellte und Lehrer – alle diskutieren über Politik. In einer Crèperie steht der Kellner am Tresen und malt ein Organigramm einer künftigen Regierung auf eine Serviette.

Die Gäste der Straßencafés beobachten mit müder Gleichgültigkeit, wie immer neue Stöße von Demonstranten vorüberziehen. Vor dem Theater rufen Frauenrechtlerinnen nach einer Reform des Erbrechts. Wenige Schritte weiter marschieren rund 100 Islamisten auf. Schwarze Flaggen schlagen im Wind hin und her. „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet“, steht darauf geschrieben. Schweigend zieht eine Gruppe mit selbst gemalten Transparenten vorbei, Angestellte eines Luxushotels, die für feste Arbeitsverträge demonstrieren.

Die Übergangsregierung soll die Kontinuität des Staates erhalten, bis zu den Wahlen im Juli. Dann werden die Tunesier über eine verfassungsgebende Versammlung abstimmen. Denn irgendwer muss entscheiden, was für ein Staat Tunesien sein soll. 34 Parteien sind bisher legalisiert; den meisten fehlt es an Strukturen, Erfahrung und finanziellen Mitteln.

Die Zentrale der Progressiven Demokratischen Partei (PDP) liegt im vierten Stock eines grauen Betonturms nahe der Avenue Bourguiba. Drinnen bahnt sich Makram Guebsi seinen Weg vorbei an den Wartenden, die den engen Empfangsraum füllen. Jeden Tag, sagt er, kommen dutzende Menschen, um Mitgliedsanträge zu stellen: „Die Tunesier waren bislang ausgeschlossen vom politischen Leben. Nun will jeder wissen: Was ist eine Partei? Wie funktioniert die Demokratie?“ Makram Guebsi, Leiter der PDP-Zweigstelle in einem Vorort von Tunis, schreitet über abgeschabtes Linoleum in einen Besprechungsraum und lässt sich in einen Kunstledersessel sinken. Bislang, erklärt er, war die PDP zwar nicht illegal. „Doch wir hatten keinerlei Handlungsspielraum. Wir konnten nicht mit der Bevölkerung in Kontakt treten und waren noch nie zu Wahlen zugelassen.“ Wie man sich wahlpolitisch organisiert, das müssen die Politiker nun schnell lernen. Das größte Risiko, sagt Makram Guebsi, ist, an den Erwartungen der Bevölkerung zu scheitern: „Im Moment will jeder alles, am besten sofort. Wir müssen ein Programm ausarbeiten, das die Probleme benennt, aber auch ehrlich vermitteln, dass wir nicht von heute auf morgen alles erreichen können.“

Die künftige Regierung wird zwischen den Idealen der Revolution und den Forderungen nach besseren Lebensbedingungen eine Balance finden müssen. Denn die Verzweiflung über Armut und Perspektivlosigkeit hat die Revolution erst angestoßen, und die wirtschaftliche Unzufriedenheit schwelt weiter.

In Hay Ettathamen, am Stadtrand von Tunis, türmen sich faulende Müllberge zwischen flachen Wohnblocks aus Rohbeton. In einem Café hocken die Gäste auf Plastikstühlen. Ein paar junge Männer lehnen am Eingang, breitbeinig, die Fäuste in den Hosentaschen. Sami Hammami, 24, sagt: „Die Revolution ist nicht vorbei, bis wir kriegen, was wir wollen.“ Er deutet durch das Fenster. „Die alle sind arbeitslos“, sagt er, dann noch einmal lauter, „alle“. Seine Freunde nicken. Es waren wütende junge Männern wie sie, die während der Revolution ins Stadtzentrum vordrangen. Stolz schildern sie, wie Polizisten auf sie einschlugen und sie dennoch nicht zurückwichen. „Wir wollen ein normales Leben führen“, sagt Hammami. „Wir sind doch keine Tiere. Wir sind die Jugend von Tunesien.“

Die Übergangsregierung müht sich um Wirtschaftswachstum und muss zugleich die alten und weit verbreiteten Eliten aus Führungspositionen entfernen, weil Politik und Wirtschaft von den Resten der Diktatur gereinigt werden sollen. Vieles ist schon geschehen: Die ehemalige Regierungspartei RCD wurde aufgelöst, ebenso die gefürchtete politische Polizei. Doch das reicht nicht.

An der Avenue de la Liberté sitzt ein ehemaliger Geheimpolizist in einem Café, von dem aus er früher den illegalen Radiosender in den Gebäuden gegenüber beschattete. Er kommt nach wie vor jeden Tag hierher, weil er nicht weiß, was er sonst tun soll. „Ich habe diesen Leuten hinterherspioniert, sie verfolgt und beim Essen beobachtet“, sagt er nüchtern. „Ich habe vieles getan, was ich selbst nicht verstanden habe.“

Immer, wenn Omar Mestiri zur Arbeit geht, kommt er an diesem Straßencafé vorbei, an Männern, die ihn bedroht und schikaniert haben. Sie kümmern ihn nicht mehr. „Man darf keine Hexenjagd veranstalten“, sagt er. „Nicht jeder konnte sich frei entscheiden.“ Der Bürgerrechtler ist ein Mann mit sanfter Stimme. In seinem hellgelb gestrichenen Büro hastet eine junge Mitarbeiterin hin und her, das Telefon klingelt ständig. Seit elf Jahren sendet sein Radiosender „Kalimat“ von hier. Mestiri hat einen hohen Preis für seinen Einsatz für die Meinungsfreiheit bezahlt: Er hat viele Jahre im Exil verbracht, weil sein Leben in Tunesien nicht mehr sicher war. Erst, als der Diktator gestürzt war, konnte er zurückkehren.

Noch fürchtet er sich vor Rückschlägen und drängt immer wieder, die juristische Aufarbeitung der Ära Ben Ali voranzutreiben. Rund 10 000 Menschen, schätzt er, hielten innerhalb der Repressionsmaschinerie verantwortliche Posten. „Wichtig ist, dass die ersten 20 Prozesse umgehend beginnen“, sagt er. „Sonst riskieren wir, dass diese Leute den Ablauf der Wahlen behindern. Sie sind noch stark und durchaus in der Lage, Angst und Verwirrung zu stiften.“

Es wird einige Zeit vergehen, ehe sich die Konturen der neuen Republik herauskristallisieren. Vieles ist im Fluss. Auch die Frage, welche Rolle die Islamisten künftig spielen sollen, ist offen. Unter Ben Ali wurde die religiöse Opposition brutal unterdrückt. Nun fordern sie vehement ihren Anteil an der Macht. Es sind Leute wie Salam Safuam, 31 Jahre alt. Mit selbstsicherem Gang läuft er über die Avenue de la Liberté, vorbei an neonbeleuchteten Sandwichbuden und Läden mit raubkopierten Hollywoodfilmen. Er kommt gerade von einem Protest gegen die US-Außenpolitik an der Rue Bourguiba. Auf seinem Weg sieht er alles, was er an Tunesien hasst: Mädchen mit wehenden Haaren flanieren vor den Boutiquen. In einer Bar sitzen die Menschen nachmittags beim Bier. Salam Safuam wendet den Blick ab. „Ich will, dass die Scharia-Gesetzgebung eingeführt wird“, sagt er. „Das ist es, was alle Tunesier wollen.“ Salam Safuam gehört zur Hizb al Tahrir, einer radikalen Islamistenpartei. Erst vor kurzem machte die Gruppe von sich reden, als ihre Mitglieder sich vor einer Synagoge versammelten und antisemitische Parolen brüllten.

Zwar haben die Radikalen – anders als die moderaten Islamisten – nur geringen Rückhalt in der Bevölkerung, doch man trifft sie hier und dort: junge Männer, die einen Gottesstaat fordern, in den ärmlichen Vororten, aber auch auf dem Campus der Universität. „Wir lehnen die Demokratie ab“, sagt Safuam. „Denn in einer Demokratie machen Menschen die Gesetze. Für uns Muslime aber gelten die Gesetze Gottes.“ Dann dreht er ab und verschwindet im Strom der Passanten.

Am Straßenrand haben fliegende Händler ihr Angebot ausgebreitet. Auf Pappkartons und Klapptischen häufen sich billige Haarspangen und Haushaltsgeräte. Eigentlich ist der Straßenhandel verboten. Doch die Polizei schreitet selten ein. Aus einem Transistorradio, das an einem Zuckerwattestand baumelt, scheppert Musik. Harte Beats mischen sich in die Schreie der Händler, dazwischen stößt ein Rapper rau hervor: „Vive la Tunisie! Vive la Tunisie! Vive la Tunisie!“

Gabriela M. Keller[Tunis]

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