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Tunesien-Tagebuch, Teil 1: "Wir wollen ein Ende des Regimes"

Eine 24-jährige Lehrerin aus der tunesischen Küstenstadt Sousse hat dem Tagesspiegel über die Situation vor dem Sturz des Präsidenten Ben Ali berichtet.

„Vor zwei Wochen hätte es noch schlimm ausgehen können, wenn ich mich öffentlich über das Regime geäußert hätte oder mit Ausländern über die Lage in Tunesien geredet hätte. Es ist verboten und man kann verurteilt werden. Wenn ich über die Diktatur sprach oder über Menschenrechte, habe ich immer geflüstert und mich ängstlich umgesehen. Aber jetzt in den letzten Tagen sprechen fast alle jungen Leute frei. Das ändert natürlich nichts daran, dass wir weiterhin kontrolliert werden. Etliche Internetseiten sind gesperrt. „404 not found“ – wie oft sehe ich diese Fehlermeldung, wenn ich eine Seite aufrufe. Wir haben es so satt.

Wir befinden uns im Chaos. Am Anfang hat die Armee sich auf die Seite der Demonstranten gestellt und sie für ein paar Stunden vor der Polizei beschützt, aber mittlerweile ist die Armee aus vielen Regionen abgezogen. Es ist unklar für uns, welche Entscheidungen getroffen werden und warum.

Meine Stadt ist im Aufruhr. Und überall im Land werden Dinge zerstört: Banken, Verwaltungsgebäude, Schulen, Polizeistationen werden angegriffen und angezündet. Es wird behauptet, dass die Demonstranten dahinter stecken, aber ich glaube das nicht. Das sind fast immer Leute, die von der Polizei bezahlt und unterstützt werden. Warum? Damit sie die Demonstranten als Terroristen bezeichnen können. Wenn Demonstranten etwas zerstören, dann wegen der Art wie die Polizei – nicht die Armee! – mit ihnen umgeht. Das habe ich auch an meinen Schülern beobachtet. Am Anfang wollten alle friedlich demonstrieren, aber die Polizei hat immer versucht, sie daran zu hindern. Viele Jugendliche wurden festgenommen und von der Polizei misshandelt. Das hat die Situation noch schlimmer gemacht. Die Jugendlichen sind immer wütender geworden. Die Schulen wurden geschlossen, wir haben auch keine Ahnung, wann wir wieder unterrichten werden. Es wird sehr schwierig werden, das alles wieder aufzuholen, vor allem für die Abschlussklassen.

Es ist ein Aufstand aus dem Elend heraus, ein Aufstand der Jugend. So geben wir ein bereits ein Beispiel für Menschen in anderen arabischen Ländern. Wir sagen Nein zur Korruption, Nein zur Ungerechtigkeit, Nein zur Zensur, Nein zur Diktatur. Ben Ali hat unserem Volk 1987 Freiheit und Demokratie versprochen. Jetzt glaubten wir ihm nicht mehr, wir wollten keine Versprechen mehr. Wir wollen, dass er und die gesamte Familie seiner Frau, die Familie „Trabelsi“, verurteilt wird. Sie sind Diebe und Kriminelle. Jetzt sind manche Internetseiten wieder zugänglich: Youtube, Dailymotion. Die Preise für manche Lebensmittel sollen gesenkt werden. Der Präsident hat Neuwahlen angekündigt. Und trotzdem ist das Volk nicht zufrieden. Nur eine Stunde nach seiner Rede, in der Ben Ali am Freitag Versprechungen gemacht hat, wird wieder auf Demonstranten geschossen, sie werden festgenommen. Die Gewalt nimmt zu. Ist das die Demokratie, die du uns versprochen hast? Wer nach Ben Ali regieren könnte, darauf habe ich keine Antwort. Ich weiß es wirklich nicht.“

Protokolliert von Karin Schädler.

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