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Warten auf die Stimmabgabe. In vielen Städten herrschte am Sonntag bei der ersten freien Abstimmung in der Geschichte Tunesiens riesiger Andrang vor den Wahllokalen.

© AFP

Tunesien wählt: Ansturm auf die Stimmzettel

Zum erstenmal in der Geschichte des Landes gibt es freie Wahlen in Tunesien - jenem Land, wo der Arabische Frühling begann. Und alle wollten hin.

Tunis - Neun Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali haben die Menschen in Tunesien zum ersten Mal in der Geschichte ihres Landes frei gewählt. Rund sieben Millionen Wahlberechtigte waren am Sonntag aufgerufen, die Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung zu bestimmen. Der Ansturm auf die Wahlurnen übertraf alle Erwartungen und führte teilweise zu stundenlangen Wartezeiten. Nach ersten offiziellen Angaben liegt die Wahlbeteiligung in manchen Bezirken über 80 Prozent. Die Wahl galt auch als Demokratietest im Mutterland des „arabischen Frühlings“.

„Das ist ein Tag der Freude und des Stolzes“, kommentierte der derzeitige Interimsstaatschef Foued Mebazaa. Ein vorläufiges Endergebnis wird frühestens am Montag erwartet. Die verfassungsgebende Versammlung soll dann im November erstmals zusammenkommen. Ihre Aufgabe ist es, eine neue Übergangsführung zu benennen und ein Grundgesetz erarbeiten. Spätestens in einem Jahr sind dann Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geplant.

Als Favoritin ging die islamistische Ennahda-Partei in die Wahl. Deren Vorsitzender Rached Ghannouchi wurde vor seinem Wahllokal in der Hauptstadt Tunis jedoch mit Buhrufen empfangen. „Verschwinde, Mistkerl“, rief eine aufgebrachte Menge. „In die Schlange, damit fängt die Demokratie an“, riefen sie, als sich Ghannouchi an den Wartenden vorbei in das Stimmlokal begeben wollte. Er reihte sich daraufhin in mehr als einem Kilometer Entfernung ein.

Im Januar hatten die Tunesier als erstes Volk in der Region erfolgreich gegen die autoritäre Herrschaft ihrer Führung rebelliert. Die Wahl gilt nun als die erste freie Wahl in der Geschichte des nordafrikanischen Mittelmeerlandes. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 gab es nur zwei Präsidenten.

Die Mutter des tunesischen Gemüsehändlers, der mit seiner Selbstverbrennung im Dezember 2010 den Arabischen Frühling einleitete, hat die neue Elite des Landes eindringlich dazu aufgefordert, sich in Gedenken an das Opfer ihres Sohnes gegen Armut einzusetzen. „Wenn mein Sohn nicht gegen Sprachlosigkeit und den Mangel an Respekt vorgegangen wäre, wäre nichts passiert“, sagte die 53-jährige Tunesierin Manoubia Bouazizi am Samstagabend in einem Interview mit Reuters, nur wenige Stunden vor der Wahl. „Aber ich hoffe, dass die Menschen, die an die Regierung kommen werden, in der Lage sind, diese Botschaft im Kopf zu behalten und sich um alle Tunesier kümmern werden, auch die Armen“, sagte sie mit Tränen in den Augen.

Ihr Sohn, der damals 26-jährige Mohamed Bouazizi, hatte sich im Dezember selbst verbrannt aus Wut und Verzweiflung über seine ausweglose Lage. Der Universitätsabsolvent, der in Tunesien keine Anstellung fand, zündete sich in der Provinzstadt Sidi Bouzid an, nachdem die Polizei seinen Gemüse- und Obstkarren konfisziert hatte. Der junge Mann, der sich als Gemüsehändler über Wasser hielt, hatte keine Lizenz für den Karren. Er starb im Krankenhaus. dpa/rtr/AFP

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