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Tusk und Merkel: Hoffnung in Weiß-Rot

Merkel und Tusk: Ein Gesicht für das alte, eines für das künftige Europa? Verleihung des Karlspreises, der wichtigsten europäischen Auszeichnung, dem Nobelpreis der EU, sozusagen. Er frisch geehrt mit der Münze, sie hält die Laudatio.

Eine Szene in Grau: Verhangener Himmel, dunkles Rathaus, Kopfsteinpflaster. Auf der Balkontreppe stehen zwei Menschen, denen handtellergroße Goldmünzen um den Hals baumeln: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der polnische Ministerpräsident Donald Tusk. Das Einzige, was hier bunt ist, sind Kastanienblüten, weiß-rot, und dazu die passenden Flaggen. Polnische Farben als einziger Farbfleck. Das wird noch wichtig.

Merkel und Tusk: Ein Gesicht für das alte, eines für das künftige Europa? Verleihung des Karlspreises, der wichtigsten europäischen Auszeichnung, dem Nobelpreis der EU, sozusagen. Er frisch geehrt mit der Münze, sie hält die Laudatio. Es ist kalt heute, feucht, und das passt zur größten Krise Europas und zur Trauer Polens.

Auf der Treppe dieser Europastadt Aachen, ganz im Westen der Republik, steht eine Kanzlerin, die international kräftig kritisiert wurde für ihre zögernde Krisenpolitik. Und die heute überrascht, sich in ihrer Laudatio zur Selbstkritik durchringt. Dazu ein Mann, der für seinen Aufbruch in ein neues Europa gefeiert wird.

Einige Minuten zuvor im Krönungssaal des Rathauses. Ein festlicher Raum, die Wände zeigen Gemälde der Lebensstationen von Karl dem Großen. Überall sind ausschließlich weiße Blumen aufgestellt, Rosen, Lilien. Zu Beginn der Feier wird die Nationalhymne gespielt, erst die polnische, dann die deutsche. Zeichen des Gedenkens an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk.

Verliehen wird Donald Tusk der Preis für seine Zustimmung zum Lissaboner EU-Vertrag sowie sein Bekenntnis zu den nachbarschaftlichen Beziehungen Polens. Tatsache ist, dass Tusk seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2007 die unter seinem Vorgänger Jaroslaw Kaczynski belasteten Verbindungen zu Deutschland, zur EU und sogar zu Russland verbessert hat. Eilte Polen zuvor in der EU der Ruf voraus, Störenfried zu sein, der gern die Opferrolle annimmt, führte er das Land wieder in die Mitte der europäischen Staatengemeinschaft.

Tusk ist, was seine Heimatstadt Danzig in ihm angelegt hat: Kaschube, aufgewachsen in einer Stadt mit europäischem Brauchtum, mit einem Bewusstsein für Historizität, sah er als Jugendlicher den blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstand von 1970. Es prägte ihn. Er macht Politik im Untergrund, wird aktiv in der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, gründet die Partei „Bürgerplattform“. Heute steht er mit einer beeindruckenden Bilanz da: Außenpolitische Kurskorrektur geglückt. Polen hat ein positives Wirtschaftswachstum vorzuweisen, als einziges Land der europäischen Union, die Schuldenquote liegt unter 60 Prozent des Bruttosozialprodukts, phänomenal niedrig.

Angela Merkel will in ihrer Laudatio das große Bild Europa aufzeichnen, die große Idee. Sie, der man in der Causa Griechenland mangelnde Solidarität vorgeworfen hat, von Dolchstoß war die Rede, von einem egoistischen Kurs, sogar von absichtlichen Demütigungen.

Sie erinnert an Tusks Biografie, lobt, das Übliche. Doch dann: „Vergessen wir für einen Moment all die Rettungspakete, Börsenkurse“. Beiseiteschieben der aktuellen Probleme? Unmöglich, das aus dem Bewusstsein zu nehmen. Angela Merkel macht einen Schlenker, zählt weitere Dinge und Meinungen auf, die sie heute vergessen möchte, und übt indirekte Selbstkritik: auch die ein oder andere würde vielleicht als „zögernd, abwartend, stabilitätsbesessen“ wahrgenommen. Applaus braust auf. Nur durch dieses Zugeständis wird es möglich, den Blick zu öffnen, ihre Worte für authentisch zu halten, und so über das Antlitz von Europa nachzudenken. „Diese Krise ist existentiell. Sie muss bestanden werden“, sagt Merkel, und spricht sich für die deutsch-polnische Freundschaft aus: „Wir sind Nachbarn, die einander brauchen.“

Tusk selbst zeigt dann, wie man Europabegeisterung stiftet. Er spricht von dem wunderbaren europäischen Abenteuer des polnischen Volkes, von Engagement, vom Grundsatz „Mutig, aber mit Vernunft“. Er sagt: „Heute braucht Europa Anführer, die an das Wesen Europas glauben“ – und er sagt es glaubwürdig.

Wie nötig Angela Merkel diesen Enthusiasmus ihres EU-Kollegen hat, zeigt sich wenig später. Tusk und Merkel ziehen zuletzt an den Aachener Bürgern vorbei. Merkel eilt, sagt „Hallo“ und ist schon weg. Donald Tusk hingegen drückt Hände, küsst Wangen, lässt ein Mädchen mit Geigenkasten auf dem Rücken ein Handyfoto machen, nimmt Glückwünsche entgegen, fünf Minuten, zehn Minuten, länger als eine Viertelstunde. Weiß-rote Hoffnung?

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