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Überlebender vom Tahrir-Platz: Eine Wunde ist geblieben

Als Taher Elsaaidy diesen Januar zum Tahrir-Platz in Kairo aufbricht, ist er voller Hoffnung. Er feiert mit den Revolutionären. Dann treffen ihn drei Schüsse. Die Verletzung wird in Berlin versorgt.

Von Julia Prosinger

Wenn Taher Elsaaidy die Tür öffnet, in der Karl-Marx-Straße in Neukölln, dann steht er oft mit nacktem Oberkörper da, obwohl ihm kalt ist im verregneten Berliner Sommer. Aber Elsaaidy muss warten, bis ihm jemand hilft den linken, schlaffen Arm aus der auberginefarbenen Schlinge zu heben, ihn durch einen Hemdsärmel zu führen. Der kalte Stoff des Hemdes reibt am Pflaster über der Wunde, Elsaaidy zuckt kurz und presst die Augenlider aufeinander.

Dort, wo nun das große Pflaster klebt, ragten vor Monaten noch Nägel aus dem Fleisch. Sie hielten die Knochentrümmer zusammen, die mal seine Schulter waren. Die Wunde war infiziert. So kam er nach Berlin, Mitte März.

Langsam geht Elsaaidy zum Gasherd in der Küche, hebt sein Knie an den Schalter, kocht mit einer Hand Kaffee. Er ist ein kleiner Mann, 51, er hat nur noch wenige Haare. Er stöhnt leise, während er den Kaffee zu seinem Bett in dem kleinen Zimmer trägt, sich auf die bunt gemusterte Bettwäsche setzt. Vor ihm stehen Stoffblumen auf dem Tisch, an der Wand hängt die ägyptische Fahne.

Früher, als er den linken Arm noch bewegen konnte, da muss er viel gestikuliert haben. Jetzt hebt er nur noch die gesunde Hand und wippt mit den Füßen, tippt mit den Zehen auf den Boden, wenn er erzählt, warum er in Berlin ist. Es ist die Geschichte eines Mannes, der glaubt, das Richtige zu tun, der sich erhebt gegen das Unrecht in seinem Land – und niedergestreckt wird mit drei Schüssen.

Am 28. Januar bricht Taher Elsaaidy wie so viele andere Ägypter nach dem Freitagsgebet in Kairo auf, weil er die Zeit gekommen sieht, ein Regime loszuwerden, das sich auf die Kosten der Bevölkerung bereichert. Er erwartet das Schlimmste. Bevor er geht, schreibt er sein Testament. Seinen 16-jährigen Sohn nimmt er mit, Frau und Töchter bleiben daheim.

Schon bei der ersten Polizeisperre auf dem Fußweg von Al Madi, einem Stadtteil am Rand Kairos, in die Altstadt werden Vater und Sohn angehalten. Ein Zehnjähriger wird von Scharfschützen erschossen. Gerade noch stand er neben ihnen. Tränengas liegt in der Luft, kurz wird Elsaaidy bewusstlos.

Während er das erzählt, blickt er lange auf die Dielen der Neuköllner Wohnung. Dann schaut er aus wütenden dunklen Augen wieder auf. Nein, umgekehrt sei er nicht. Er habe nur den Sohn nach Hause geschickt. Der Tod des Jungen, gleich neben ihm, trieb ihn weiter an. „Diktatoren kann man nur stürzen“, sagte er sich und kämpfte sich durch bis zum Tahrir-Platz.

Er wird Teil eines tagelangen Festes, Lagerfeuer brennen, überall wird diskutiert, gesungen, gegessen. Zwei Paare heiraten mitten auf dem Platz. Elsaaidy hat Gänsehaut vor lauter Aufregung, er schläft nicht, nur zwischendurch legt er sich ein paar Minuten aufs Gras. Es waren besondere Tage, er hatte Hoffnung. Bis er am zweiten Februar zwischen Zivilisten auf Pferden und Kamelen gerät, die die Demonstranten attackieren, als kämpften hier Feinde. Und, bis sich im Morgengrauen des dritten Februar, gegen vier Uhr früh, Männer in schwarzer Kleidung auf der Brücke des sechsten Oktober aufbauen. Elsaaidy steht auf der nördlichen Seite des Platzes, nah an der Brücke. Er sieht die Männer, er könnte gehen. Aber er bleibt. „Ich habe 30 Jahre Angst gehabt“, sagt er, „jetzt habe ich keine mehr.“

Er sieht rote Punkte auf den Körpern der Demonstranten, Laserstrahlen, die ihre Ziele suchen, er sieht Männer neben sich zusammensinken. Dann sieht er einen roten Punkt auf seiner eigenen Schulter und wie seine Hand, die er eben noch vor der Brust hielt, fällt. Die Schüsse treffen ihn aus etwa 15 Meter Entfernung.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Elsaaidy im Krankenhaus erwachte.

Als Elsaaidy wieder zu sich kommt, 20 Stunden später, liegt er im größten Krankenhaus Kairos. Um ihn herum Verletzte, Sterbende. Menschen, die wie er auf die Straße gegangen waren, um Mubaraks Abgang zu erstreiten, die sich betend vor Soldaten geworfen und Tränengas, Schüsse und Knüppel abbekommen hatten. Ein Arzt erzählt ihm, was passiert ist. Drei Kugeln haben einen Nerv und eine Vene durchschnitten, seine Schulterknochen zertrümmert. Er solle das aber nicht erwähnen, vor allem nicht gegenüber einem Staatsanwalt, riet er ihm. Auch unter den Ärzten herrschte Angst, erklärt Elsaaidy, und manche standen wohl im Dienst des Regimes.

Sicherheitskräfte verhafteten Patienten und Ärzte, schossen angeblich sogar auf Verletzte. Doch die Angst vor staatlicher Überwachung war nur eines der Probleme im Krankenhaus. Immer mehr Verletzte suchten Hilfe, Soldaten hatten aus Panzern in Köpfe, Bäuche und Nacken geschossen. Es gab Verbrennungen und blutende Augen, bei einigen hatten Kugeln die Sehnerven durchtrennt, sie zu Blinden gemacht. Dem Krankenhaus fehlte es an allem, Tupfer, Antibiotika und Platz, es kommt zu Infektionen. Patienten werden abgewiesen, weil sie zu wenig Geld für eine Behandlung haben.

Taher Elsaaidy hatte Glück, er lag in einem Bett. Neben ihm saß seine Familie und weinte. „Kämpft weiter, es gibt kein Zurück“, sagte er. Elsaaidy war nie einer, der bei jeder Gelegenheit, schnell und unüberlegt, auf die Straße ging. Aber er hat ein gutes Gespür dafür, wann er gebraucht wird. Wann sein Einsatz einen Unterschied macht.

Es war der elfte Februar, an dem ihm klar wurde, dass er richtig gehandelt hatte. Auf den Gängen im Krankenhaus jubelten die Verletzten, Mubarak war abgetreten, der arabische Frühling war da. „Ich habe all den Schmerz nicht mehr gespürt“, sagt Elsaaidy und strahlt jetzt, weit weg von zu Hause. Mit der rechten Hand rückt er die leblose linke in der Schlinge zurecht. Neben ihm sei einer gestorben, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet. Und dann bekommt Elsaaidy wichtigen Besuch.

An seinem Krankenbett steht plötzlich eine Gruppe Intellektueller, Kairoer Persönlichkeiten. Tagelang waren sie bereits durch die Krankenhäuser geschritten und hatten Listen mit den schwersten Fällen erstellt. Zur Begrüßung küssen sie Elsaaidy auf die Stirn. Er gilt jetzt als Revolutionsheld. Ein Revolutionsheld, der bald seine Hand verlieren würde. Elsaaidy bekommt einen Platz auf der Liste. Bis heute stehen mehr als 3000 Verletzte darauf, für manche Operationen könnte es bereits zu spät sein.

Als sie Elsaaidy trafen, hatten diese Männer gerade angefangen ihre Beziehungen ins Ausland zu nutzen. Ein Professor rief einen berühmten Ingenieur an, der berühmte Ingenieur rief eine Freundin in Europa an, die Freundin fragte einen Ägypter in Berlin, der Ägypter verhandelte mit Krankenhäusern. Er bat Ärzte um Hilfe, um Operationen auf Kosten des Krankenhauses. Die ersten Antworten, die sie erhielten, kamen aus Deutschland. Vielleicht hat es eine Rolle gespielt, dass Mubarak selbst mehrmals in Deutschland behandelt wurde. Das ist nicht herauszufinden, denn die Kliniken verbieten den Ärzten über die Fälle zu sprechen, auch wenn die Patienten sie von der Schweigepflicht entbinden.

Elsaaidy war in der ersten Gruppe von Patienten, die ausreisen durften. Menschenrechtler sammelten Geld, Fluggesellschaften spendeten Flüge und die deutsche Botschaft stellte innerhalb weniger Tage, manchmal in nur 24 Stunden, medizinische Notfallvisa aus. Zehn Ägypter wurden mittlerweile schon in Deutschland behandelt, andere in Frankreich und Österreich.

Als Elsaaidy in Berlin ankommt, liegen die Schüsse auf ihn mehr als vier Wochen zurück. Die Wunde ist infiziert – und die Infektion hat sich ausgebreitet in seinem ganzen Körper. Das Bakterium ist resistent gegen viele Antibiotika, Elsaaidy kommt in Quarantäne. Mehrmals müssen die Ärzte im Unfallkrankenhaus Berlin Marzahn operieren, die Wunde säubern, bis sie überhaupt zu ihrem eigentlichen Spezialgebiet kommen: Sie transplantieren Elsaaidy einen neuen Nerv und eine neue Vene aus den Unterschenkeln in den Oberarm. Zweieinhalb Monate muss er im Klinikum bleiben. Vier tiefe Schnitte hat er an jedem Bein. Mehr als 100 000 Euro haben Operation und Aufenthalt gekostet.

Eine Summe, die Elsaaidy niemals hätte aufbringen können. Obwohl er, im Gegensatz zu vielen, die in der ersten Reihe standen, als die Schüsse fielen, die ihr Leben einer Idee opferten, aus einer Mittelschichtfamilie kommt. Er konnte es sich leisten, politisch zu sein. Schon als Jugendlicher kritisierte er seinen Schulleiter, später, als er an der ältesten Universität Ägyptens Wirtschaft studierte, protestierte er gegen die Arbeitslosenquote von 40 Prozent. In den vergangenen Jahren arbeitete er als Buchhalter bei einer Firma, die Im- und Exporte für den Staat kontrollierte. Bestechung, erzählt er, sei normal gewesen. Wer kritisch war, bekam weniger Geld, wurde in abgelegene Filialen versetzt, von der Staatssicherheit mit Haft bedroht. Immer mehr Stellen gingen an ehemalige Militärs. Elsaaidy engagierte sich dennoch in der Gewerkschaft. Er ist ein Mann, der sich entscheidet. Und der dann etwas tun will.

Lesen Sie auf Seite 3, wie sich Elsaaidy am Prozess gegen Mubarak beteiligen wird.

In seinen Monaten in Berlin musste er sich das abgewöhnen. Bis zu 50 Leute, die meisten Ägypter, kümmerten sich darum, dass er überleben konnte. Während der Revolution in Ägypten haben sich die in Berlin lebenden Ägypter zusammengefunden. Von hier aus wollen sie mithelfen, das Regime im Heimatland zu stürzen. Sie wuschen Elsaaidy, sie brachten ihn zur Toilette, sie zogen ihm Hemden und Socken an. Sie sprachen mit ihm, über das, was er erlebt hatte. In den ersten Wochen hatte er Albträume. „Ich werde den Moment nie vergessen, in dem das Gefühl aus meinem Arm verschwunden ist“, sagt er. Sie sammelten Spenden für die Wohnung und kauften ihm Telefonkarten, damit er seine Familie anrufen konnte. Sie begleiteten ihn zur Physiotherapie. Einmal brach er zusammen. Einmal stürzt er im Bad. Es war immer jemand da.

Das hat sich inzwischen geändert. Neulich ist er zum ersten Mal allein auf die Straße hinaus, er hat sich Schuhe gekauft bei Deichmann. Er hat sich auch allein die Nägel geschnitten und dabei in den Finger, weil er dort immer noch kein Gefühl hat. Und als ihn die ägyptische Botschaft in Berlin zum Nationalfeiertag eingeladen hat, da hat er Nein gesagt. Er will nicht missbraucht werden für die alte Regierung, die auch noch in der Botschaft steckt. Im Gegenteil. Er will wieder kämpfen. Will auf den Tahrir-Platz ziehen, ein zweites Mal, wenn es nötig ist. So lange, bis alle seine Forderungen erfüllt sind. Denn mit der Verschleppung von Polizei- und Justizreformen ist er nicht einverstanden. Und er will Hosni Mubarak und den ehemaligen Innenminister Habib al Adli vor Gericht sehen. Das ist die Forderung, auf die sich alle Demonstranten in Ägypten geeinigt haben. Das wissen auch Kabinett und Militärrat.

Am 3. August soll der Prozess gegen Mubarak stattfinden, nicht vor einem eigens eingerichteten Tribunal, sondern vor dem normalen Strafgericht in Kairo. Zwar ist nicht sicher, ob Mubarak erscheint, ob das Gericht den Prozess nicht vertagt, aber wenn es so weit ist, dann wird es nicht nur um Korruption und Veruntreuung von Geldern gehen. Ein Anklagepunkt ist die Tötung und Verletzung unbewaffneter Demonstranten. Es geht also auch um jene Schüsse, die daran schuld sind, dass Elsaaidy seinen Arm vielleicht nie wieder richtig bewegen kann.

Vor zwei Wochen hat Elsaaidys Anwalt in Kairo ihn als Nebenkläger angemeldet, etwa 800 solcher Klagen liegen dem Gericht vor. Wird das bewilligt, darf er für Elsaaidy beim Prozess Zeugen befragen und Anhörung beantragen, und vielleicht bekommt er sogar eine symbolische Entschädigung. Bis zu einem Zivilprozess wird es aber noch Jahre dauern. Und für den Fall, dass das alles nicht hilft, hat Elsaaidy jetzt auch eine Berliner Menschenrechtsorganisation eingeschaltet. Das European Center for Constitutional and Human Rights hat seinen Fall an verschiedene UN-Sonderberichterstatter geschickt. Es bittet, Druck auszuüben auf Ägypten, dass Männer wie Elsaaidy medizinische Soforthilfe erhalten, ein kurzfristiges Darlehen und irgendwann eine Entschädigung.

Etwa 8000 Menschen wurden bei den Protesten verletzt, viele von ihnen warten noch immer auf medizinische Versorgung, sie hoffen auf einen Platz auf der Liste, auf ausländische Ärzte. Oft sind sie zu stolz, um nach Geld zu fragen, für ihre Familien, die von ihrem Einkommen abhängig sind.

Am vergangenen Samstag, gegen 15.30 Uhr ist Elsaaidy am Flughafen Schönefeld abgeflogen. Nach Hause, zu seiner Familie, aber auch zu Mubarak. Drei Taschen hat er dabei, eine voll mit Geschenken für seine Kinder. Das ist eine zu viel, aber für Elsaaidy müssen andere Regeln gelten, erklären seine Freunde bei der Gepäckaufgabe, bis sie ihn durchlassen. Er ist doch ein Revolutionsheld.

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