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Axtkämpfer. Dieser ukrainische Soldat hat beim Rückzug unweit von Artemivsk auch eine mittelalterliche Waffe dabei. 179 ukrainische Soldaten starben offiziell in Debalzewe. Die wahre Zahl dürfte höher liegen.

© Reuters

Ukraine ein Jahr nach dem Maidan: Kiew trauert - in Charkiw explodiert eine Bombe

Gedenkmärsche für Maidan-Opfer werden in der Ukraine von einem Anschlag in Charkiw überschattet. Dennoch werden Gefangene ausgetauscht - und schwere Waffen sollen nun doch abgezogen werden.

In Kiew passierte der „Marsch der Würde“ gerade das Parlamentsgebäude im Regierungsviertel mit Präsident Petro Poroschenko und seinen Gästen, unter ihnen Bundespräsident Joachim Gauck, als im rund 500 Kilometer entfernten Charkiw eine Bombe hochging und mindestens drei Menschen in den Tod riss. Kurz zuvor gab es Meldungen, wonach der Abzug schwerer Waffen von der Front im Donbass doch anlaufen soll. Trauer, Wut und Hoffnung lagen in der Ukraine auch am Sonntag wieder nah beieinander.

Zeitgleich hatten in Kiew, Charkiw und weiteren Städten die Menschen zu Tausenden mit Gedenkmärschen an die Opfer der Maidan-Proteste erinnert.

In Kiew hatten sich zur Mittagszeit etwa 12 000 Menschen versammelt und waren im „Marsch der Würde“ an jenen Orten vorbeigezogen, die im vergangenen Winter Schauplatz der Ereignisse waren, an deren Ende die Flucht des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch stand. Neben Bundespräsident Joachim Gauck war auch Marieluise Beck, Sprecherin der Grünen für Osteuropa, nach Kiew gereist. „Wir können alle nicht sagen, ob das Abkommen von Minsk tatsächlich umgesetzt wird und ob die USA von Waffenlieferungen an die Ukraine absehen“, sagte Beck dem Tagesspiegel.

Poroschenko hält sich alles offen

Präsident Petro Poroschenko hält sich alle Optionen offen. In zahlreichen Gesprächen, die er seit dem frühen Sonntagmorgen mit den nach Kiew angereisten Staats- und Regierungschefs geführt hat, machte er immer wieder deutlich: „Die Ukraine wird sich von ihrem Kurs Richtung Europa durch niemanden abbringen lassen.“ Auch die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die heute vor einem Jahr aus der Haft in Charkiw aufgrund eines Parlamentsbeschlusses freigelassen wurde, ist dieser Meinung: „Vor einem Jahr haben wir unseren Marsch in die Eigenständigkeit begonnen, wir alle wollen frei sein. Unser Land muss sich verteidigen können, dazu brauchen wir alle Instrumente, die dafür notwendig sind“, sagte sie dem Tagesspiegel. Timoschenkos Partei ist Mitglied der Regierungskoalition und stellt zwei Minister.

Neben Bundespräsident Gauck waren unter anderem auch der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk, Polens Präsident Bronislaw Komorowski und die Präsidentin Litauens, Dalia Grybauskaite, in die ukrainische Hauptstadt gereist. In der Kiewer Innenstadt herrschte die höchste Sicherheitsstufe, doch trotz zahlreicher Polizisten waren die Einlasskontrollen lasch. Warum auf Metalldetektoren beim Einlass genauso verzichtet wurde wie auf Ausweiskontrollen, blieb unklar. Bereits am späten Vormittag waren zahlreiche Menschen mit Flaggen und Blumen in die Institutska-Straße gekommen, von wo der Marsch seinen Anfang nahm.

Ilham hatte vier rote Nelken für seinen am 19. Februar getöteten Freund dabei. „Dmitri und ich hatten den gesamten Winter über Journalisten gefahren. Am 18. Februar setzten bei meiner Frau die Wehen ein und ich bin mit ihr ins Krankenhaus, deshalb habe ich überlebt“, sagt der 39-Jährige. Zwischen dem 18. und 20. Februar starben über 100 Menschen auf dem Maidan, die meisten der Opfer wurden erschossen.

Der Anschlag in Charkiw gefährdet den Frieden

Pawel hat die Uniform der „Samoborona“, einer Sicherheitsorganisation, die aus den Maidan-Protesten hervorgegangen ist, angezogen. In hellolivfarbener Kampfmontur, eine ukrainische Fahne über der Schulter, stand er mit Kollegen vor einem großen Holzkreuz. Zuerst blieb der 22-Jährige wortkarg: „Die Lage im Land ist kompliziert. Ich bin bereit, für mein Land zu kämpfen und zu sterben“, sagte der blonde, jungenhafte Soldat, der aus der Region Winnyzja stammt. Auf die Frage, ob die derzeitige politische Führung die Lage unter Kontrolle habe, antwortete er: „Ich vertraue unseren Politikern nicht. Am besten übernimmt einer aus dem Volk das Kommando. Wer das sein könnte, weiß ich zwar nicht, aber es wird sich schon jemand finden.“

Der Anschlag in Charkiw ereignete sich in der Innenstadt, wo einige tausend Menschen der Maidan-Ereignisse von vor einem Jahr gedachten. Es gab drei Tote und mindestens zehn Verletzte. Das ukrainische Innenministerium sprach von einem Terroranschlag und kündigte eine „schnelle und gründliche Aufklärung“ an. Die Explosion könnte die Hoffnungen auf einen Waffenstillstand in der Ostukraine zunichtemachen. Zwar hatten sich die Armee und die prorussischen Separatisten am Samstagabend erneut darauf verständigt, mit dem Abzug schwerer Waffen zu beginnen, doch ob es wirklich dazu kommt, ist unklar.

Unterdessen wurden in der Nacht von Samstag auf Sonntag 139 ukrainische Soldaten in Luhansk von den Rebellen freigelassen, unter ihnen Kämpfer, die am Flughafen von Donezk im Einsatz gewesen sind, sowie Soldaten aus Debalzewe.

In dieser für die Rebellen strategisch wichtigen Stadt hatten am Wochenende die OSZE-Beobachter erstmals Zutritt. Die Organisation spricht von einer „humanitären Katastrophe“, die man in Debalzewe vorgefunden habe. Präsident Poroschenkos Militärberater Juri Birjukow äußerte sich erstmals öffentlich über die Verluste in Debalzewe. Demnach sind inzwischen 179 tote Soldaten identifiziert, 80 werden noch vermisst. Ende der vergangenen Woche hatte die ukrainische Armee noch von 14 Toten gesprochen.

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