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Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch.

© dapd

Ukraine: "Es tut mir leid um mein Land"

Wenige Wochen vor der Fußball-EM reist der Schriftsteller Juri Andruchowytsch quer durch die Ukraine. Ein Essay über das wahre Gesicht der Machthaber, die Leichtgläubigkeit der Europäer – und die Rückkehr der Angst.

Das Schreiben dieser beiläufigen Notizen habe ich im April Tag für Tag aufgeschoben. Jetzt aber gab es die Explosionen in Dnipropetrowsk – einer der größten Industriestädte im ukrainischen Osten. Als ertönte eine letzte Warnung: Das Leben in der Ukraine ist nicht mehr nur ungemütlich, abstoßend und blass, es wird gefährlich und färbt sich langsam, aber sicher blutig ein.

Okay, ich wäre bereit zu glauben, dass es nicht die Staatsmacht war, die die Explosionen organisiert hat. Als hätte sie nicht ohnehin genug Sorgen. Aber allein die Tatsache, dass die öffentliche Meinung dazu neigt, die Staatsmacht zu verdächtigen, spricht Bände.

Wie sehr, wie aufrichtig möchte ich mich in der Annahme irren, dass die heutigen Machthaber in unserem Land vor nichts zurückschrecken. Dass sie, wenn schon nicht über gesunden Menschverstand (darum ist es bei ihnen sehr schlecht bestellt), so doch über einen ausgeprägten Überlebensinstinkt verfügen.

In diesen Notizen möchte ich meine jüngste Lesereise beschreiben. Eine Gelegenheit, mein Land einmal wieder von innen zu sehen. Sie dauerte genau zwei Wochen, und zusammen mit meinem Verleger haben wir in dessen Auto ungefähr 2700 Kilometer zurückgelegt und zehn Städte besucht – im Westen, im Zentrum und im Süden. Bis in den Osten wären wir so oder so nicht gekommen, das Land ist einfach zu groß, dafür hätten wir mindestens zwei weitere Wochen benötigt.

Ich möchte über das Land schreiben, das ich durch die Autoscheiben sah. Über seine Stagnation, die Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber, über den Verfall und die Ruinen. Und über die unvermeidlichen allgegenwärtigen Schmiergeldforderungen der Straßenmiliz.

Ich könnte Vergleiche ziehen, denn dafür hatte ich eine gute Grundlage. Vor fünf Jahren war ebenfalls April und ich mit einem neuen Buch auf Lesereise. Mit der Eisenbahn durchquerte ich die ganze Ukraine – von Charkiw nach Uschgorod. Oder, wenn man die Süd-Nord-Achse nimmt, von Odessa nach Riwne. Die Säle waren zum Bersten gefüllt. Während der Lesung in Ostroh erhielt mein Freund und Moderator Saschko Irwanez eine SMS, dass wir die Fußball-EM bekämen. Als er das dem Publikum verkündete, brüllte der Saal vor Freude.

Vor fünf Jahren war das Land total high. Es hatte eine Zukunft, auch wenn die EU keine Eile an den Tag legte, ihm eine Perspektive zu geben. Aber damals träumten nicht 85 Prozent der Studenten davon, es für immer zu verlassen. Heute träumen sie davon, und es tut mir leid um das Land, das wir im April 2007 hatten.

Mir tun die Unternehmer leid, zu denen die „Donezker“ kommen (Leute, die mit dem heutigen Regime, seinen Repräsentanten verbandelt sind) und sagen: „Dein Business gefällt uns. Gib es her.“ Und zwar für weniger als ein Drittel des Preises. Die „Donezker“ sind im Business nur zu einem fähig – anderen das wegzunehmen, was erfolgreich und einträglich ist. Eingeschüchtert und in die Ecke getrieben, verpfänden die Unternehmer schnell ihren ganzen Besitz den Banken, nehmen die Kredite und fliehen ins Ausland. Bald sind in diesem Land keine fähigen Unternehmer mehr übrig.

Mir tun die Journalisten von TVi, dem einzigen unabhängigen Fernsehsender, leid – schon seit mehreren Wochen werden sie, wie es so schön heißt, von der Steuerpolizei geknechtet, die in der heutigen Ukraine vor allem existiert, um politische Rechnungen zu begleichen. Dem Fernsehsender werden Finanzmachenschaften vorgeworfen. Natürlich, weil die Journalisten den Präsidenten und sein ganzes System kritisieren. Sie sind die Einzigen, die im ukrainischen Fernsehen noch kritisieren. Und dafür werden sie zu Steuerhinterziehern gemacht.

Mir tut die ukrainische Sprache leid – sie wird überall verdrängt. Wieder jagt man sie aus den Kinos. Die Steuerpolizei friert die Bankkonten und Aktiva des einzigen kommerziell erfolgreichen ukrainischsprachigen Synchronisationsstudios ein. Immer aufdringlicher werden wir mit dem Ausschuss des russischen Popkultur-Marktes zugeschüttet. Und erst kürzlich kam die Nachricht, dass selbst die Spiele der EM im ukrainischen Fernsehen von extra engagierten Russen kommentiert werden. Das würde „das Prestige steigern“.

Mir tun die Verhafteten und Angeklagten leid, deren durchschnittliche Chance, von einem ukrainischen Gericht freigesprochen zu werden, bei weniger als einem (!) Prozent liegt. Mir tun die politischen Gefangenen leid, deren Chance, frei- und zu den Wahlen zugelassen zu werden, nicht einmal ein Prozent beträgt.

Ja, wir haben politische Gefangene. Darunter gibt es Vips (Julia Timoschenko, Juri Luzenko und ein paar andere), und „Namenlose“ – Dutzende, wenn nicht Hunderte.

Lange haben wir versucht, uns etwas vorzumachen, haben alle möglichen mildernden Umstände erfunden. „Sie“ (die Machthaber) würden sich nur ein bisschen austoben, ein bisschen die Zähne blecken – und dann aufhören. Denn „sie“ (die Regierung, die Opposition) sind doch eigentlich alle gleich, und eine Krähe hackt der anderen doch kein Auge aus.

Wir glaubten nicht, dass man Timoschenko und Luzenko verhaften würde – aber sie wurden verhaftet.

Wir glaubten nicht, dass sie vor Gericht gestellt würden – aber die Prozesse fanden statt.

Wir glaubten nicht, dass sie zu Haftstrafen verurteilt werden würden – aber sie wurden verurteilt.

Was sollen wir jetzt noch nicht glauben?

Dass man Timoschenko zusammengeschlagen hat? Dass die Machthaber vor nichts zurückschrecken?

In diesem April war ich nicht mit der Eisenbahn, sondern auf den Straßen unterwegs. Die Straßen in unserem Land sind, wie Sie wissen, voller Schlaglöcher. Doch nein, es gab auch einzelne Abschnitte, die ganz in Ordnung waren, eiligst gebaut von irgendwelchen Mazedoniern oder Türken. Ab und zu grüßten uns unbekannte Philanthropen von den Big Boards, den riesigen Werbetafeln am Straßenrand, mit erstaunlich höflichen Botschaften: „Vielen Dank, dass Sie den Straßenrand nicht vermüllen.“ Aber sie dankten umsonst: Unsere Straßenränder sind weder sauber noch unvermüllt zu nennen. Vielleicht aber handelt es sich um eine besondere Form der Ironie. Das Geschriebene muss als sein genaues Gegenteil verstanden werden.

Der Müll an den Ufern unserer Flüsse entspricht dem Müll in den Köpfen. Alles hat seine Richtigkeit – wir sind, wie wir sind. Oijoijoi, und was für eine EM wir für euch veranstalten werden!

Die Big Boards am Straßenrand hinterließen deutlich den Eindruck, dass die Wirtschaft in unserem Land endgültig stillsteht und es hier weder Waren noch Dienstleistungen gibt (schönen Gruß vom „Donezker“-Business!). Das Einzige, womit hier noch gehandelt wird, sind die Visagen aller möglichen Bosse, die offenbar vorhaben, bei den nächsten Wahlen zu kandidieren. Riesige Köpfe Außerirdischer, die uns zu irgendetwas gratulieren. Auch wir gratulieren uns dazu, dass wir sie haben.

Am treffendsten drückte sich der Gouverneur von Odessa auf einem Big Board aus: „Die Leute entscheiden – die Staatsmacht führt aus!“ Zum Glück wissen wir inzwischen sehr genau, wen man in diesen Kreisen als „Leute“ bezeichnet. Im Verbrecherjargon sind „Leute“ die Elite, die höchsten Bosse der kriminellen Welt. Im Gegensatz zu uns Normalsterblichen „entscheiden“ sie in diesem Land wirklich.

Oh, ihr naiven Europäer! Glaubt ihr denn immer noch, dass ihr mit Politikern sprecht, wenn ihr mit der ukrainischen Führung verhandelt? Was denn für Politiker, es sind Kriminelle und Verbrecher! Gegen sie seid ihr mittel-, wenn nicht schutzlos. Sie versuchen, zivilisierte politische Mechanismen zur Anwendung zu bringen, sie anerkennen aber nur ein einziges Argument – den Baseballschläger über den Schädel.

Und solchen „Leuten“ habt ihr fröhlich zum Wahlsieg 2010 gratuliert?!

Der Präsident dieses Landes hat seine Chancen genutzt und in seinem Leben schon einiges erreicht. Er lebt in einem riesigen Anwesen bei Kiew – umgeben von Wäldern, in denen er Wild jagt, und Seen, auf denen er in einem speziellen Wasserpalast herumfährt. Die Grenzen seines viele Hektar großen Besitzes bewachen ganze Heerscharen kahl geschorener Kämpfer. Er hat unser Land aus dem wilden Kapitalismus heraus- und in den wilden Feudalismus hineingeführt. Daher hält er sich schon mindestens für einen Monarchen. Er entleert sich in eine Kloschüssel im Wert von 350 000 Euro – eine goldene Kloschüssel mit Diamanten, daher der Preis. Nicht schlecht für einen früheren minderjährigen Kriminellen, der seinerzeit in ein Gefängnis- Plumpsklo scheißen musste! „Das Leben läuft gut“, denkt er jedes Mal, wenn er sich auf seine wertvolle Schüssel, das Symbol seines Sieges setzt.

Manchmal stoße ich im Internet darauf, wie unbekannte ausländische Beobachter unsere ukrainische Realität kommentieren. Hier ein solcher Kommentar im Original: „Every time I read this kind of stories / watch videos or pictures with all these cars, watches, helicopters, houses, trips to exotic islands – I ask myself: how come you are all so patient? How much longer you will tolerate all this? Or you just don’t care?“

„Yes, we do care“, würde ich darauf gerne antworten. Aber wir haben ein Problem: Die Angst ist zurück. Sie ist das Problem. Solche Angst hatten wir seit ungefähr den 1970ern nicht mehr. So dass wir auch nicht mehr daran gewöhnt sind. Jetzt müssen wir wieder Angst haben. Denn sie haben alles in der Hand – die Staatsanwaltschaft, die Gerichte, die Miliz, die Armee, die Geheimdienste, alles ist ihnen unterstellt. Wenn es in ihren Reihen auch nur die geringste Schneise gäbe, wären wir dort eingedrungen! Aber sie sind monolithisch. In der Sprache der „Leute“ heißt das: „Einer für alle, alle für einen.“ Eine Art riesiges Sizilien der Zwischenkriegszeit.

Kommt doch zur EM und protestiert an unserer Stelle – vielleicht werden sie es nicht wagen, euch niederzuknüppeln oder mit Gas zu besprühen.

Aber kommt auch einfach so.

Wenn ihr das Angefault-Sowjetische liebt, diese nicht ganz südliche, aber ganz schmutzige Atmosphäre, die toxischen Auswürfe gigantischer Kombinate, die Lenin-Stalin-Denkmäler, Wodka mit Bier, vermüllte Straßenränder, verfallene historische Gebäude und die Bauruinen unfertiger „Business-Center“ und „Geschäftspassagen“, wenn es euch nach diesen zugänglichen und willigen Mädchen dürstet, die ja schließlich nicht alle HIV-positiv sind oder venerisch, und nach den allgegenwärtigen Wächtern, Bullen, Agenten, nach all den Muskelprotzen mit gezücktem Baseballschläger, dann kommt, kommt zu uns, herzlich willkommen bei der ukrainischen EM!

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.

Juri Andruchowytsch (52) ist Schriftsteller und Essayist und gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Nach dem Journalistikstudium schrieb er zunächst Gedichte und gründete eine literarische Performance-Gruppe. An der Orangenen Revolution nahm er aktiv teil. Im Jahr 2006 wurde ihm der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Völkerverständigung verliehen.

Juri Andruchochwytsch

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