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Ukraine in der Kritik: Politische Steilvorlagen vor der Fußball-EM

Vorschläge für Proteste gegen die Ukraine gibt es viele. Doch sind sie auch wirkungsvoll und realistisch?

Politischer Boykott, fernsehtaugliche Demonstrationen, Verlegung der EM- Spiele. Immer neue Vorschläge machen in Deutschland die Runde, wie man den Machthabern in der Ukraine die Fußball-EM vergällen könnte, um damit den Protest gegen die unwürdige Behandlung der Oppositionsführerin Julia Timoschenko zum Ausdruck zu bringen. Was am Ende tatsächlich sinnvoll und wirkungsvoll ist, ist schwer zu beurteilen. Auf alle Fälle gerät auch Polen als Mitveranstalter der Europameisterschaft in eine schwierige Situation.

Wäre eine Verlegung der Spiele von Austragungsorten in der Ukraine nach Deutschland überhaupt noch machbar?

Vor drei Jahren stellte der europäische Fußballverband Uefa mit seinem Präsidenten Michel Platini bereits die Ukraine als Ausrichter infrage, weil zu wenig in Stadien, Straßen, Hotels und andere Infrastruktur investiert wurde. Der Druck sollte dadurch erhöht werden, schon damals kamen Leipzig und Berlin als alternative Austragungsorte ins Gespräch. Es wäre noch viel Zeit gewesen, um zu planen. Wenn jetzt wieder über die Verlegung von Spielen spekuliert wird, ist die Zeit natürlich noch viel knapper. „Das bekäme man in so kurzer Zeit nicht hin“, sagte denn auch Turnierdirektor Martin Kallen der „Süddeutschen Zeitung“. Sollte die EM generell nicht durchführbar sein, „gäbe es nur eine Möglichkeit: Dann müsste man an eine Verschiebung des Turniers denken, in ein anderes Jahr“.

Eine kurzfristige Verlegung auch nur einzelner Spiele des Großereignisses würde tatsächlich viel Aufwand bedeuten, von den Sponsorenverträgen bis hin zu den Fans und deren Reisen. Die Ukraine weiß nicht einmal, ob eine Million oder eineinhalb Millionen Besucher zum Turnier in das Land kommen werden, ähnlich ungewiss wäre die Lage an neuen Spielorten, die sich sehr schnell auf hunderttausende Gäste – Fans, Sicherheitskräfte, Journalisten, Vips – einstellen müssten. Der Organisationsweltmeister Deutschland ist am ehesten geeignet, mit einem solchen Szenario zu drohen. Wenn überhaupt einem Land zugetraut wird, so etwas auf die Schnelle möglich zu machen, ist es Deutschland. Die fantastische WM 2006 ist noch allerorten im Gedächtnis. Aber damals gab es genug Zeit, um alles zu planen, bis hin zu den Orten für das Public Viewing. Was alles mit dieser EM auf Deutschland zukommen würde, vermag indes niemand genau zu sagen, dafür gibt es keine Erfahrungswerte. Noch nie wurde eine so große Sportveranstaltung so kurzfristig verlegt.

Welche Druckmittel gegen die Ukraine gibt es auf politischer Ebene noch?

Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler bringt ein staatsrechtliches Verfahren ins Spiel: Er forderte die Bundesregierung auf, die Ukraine wegen der schlechten Behandlung der inhaftierten früheren Regierungschefin Julia Timoschenko zu verklagen. In einem Schreiben an Außenminister Guido Westerwelle verlangte er, „Staatenbeschwerde“ beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einzulegen. Er halte dies für „zielführender als die Rhetorik um den Boykott der Fußball-Europameisterschaft, der letztendlich höchstens deklaratorisch ist und ähnlich wirkungslos wie alle bisherigen Boykotte von Sportwettkämpfen sein dürfte“, schreibt der CSU-Politiker in dem Brief, der dem Tagesspiegel vorliegt.

Als Grund für die Klage nennt Gauweiler die Verletzung des menschenrechtlichen Anspruchs auf ein faires Verfahren, des Rechts auf Leben und des Schutzes vor Folter und Misshandlung im Strafvollzug. Der Vorgang betreffe einen Sachverhalt, der „geradezu einen Musterfall für eine Staatenbeschwerde darstellt“. Es spreche immer mehr dafür, dass es sich bei dem „brutalen und rechtlich extrem unfairen Umgang“ mit Timoschenko „um einen Racheakt des amtierenden Präsidenten Janukowitsch und seines Machtapparates handelt“.

Wie verhält sich Polen?

Polen ist zusammen mit der Ukraine – ähnlich wie 2008 Österreich und die Schweiz – Co-Gastgeber der Fußball-EM. Das polnische Außenministerium reagierte am Dienstag nervös auf die EM-Boykottdrohungen von Merkel und Barroso. Ein solch großartiges Sportereignis sollte nicht mit den Misshandlungen Julia Timoschenkos in Verbindung gebracht werden, sagte Ministeriumssprecher Marcin Bosacki. Er forderte die europäischen Politiker auf, von weiteren Boykottdrohungen gegen die Ukraine Abstand zu nehmen. Solche Drohungen seien „ein Missverständis“, sagte er.

In der polnischen Öffentlichkeit kommen die Boykotterwägungen erst langsam an – als Unbill, die die EM beeinträchtigen könnte. Mit Genugtuung immerhin vermerkt das Internetportal der meinungsführenden Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ den Vorschlag der deutschen Staatssekretärin im Entwicklungsministerium Gudrun Kopp, die in einem Interview mit dem „Westfalen-Blatt“ angeregt hatte, Polen solle doch einfach die in der Ukraine vorgesehenen Fussballspiele bei sich organisieren. 16 Partien, einschließlich Finalspiel in Kiew, werden in der Ukraine ausgetragen. Die deutsche Mannschaft bestreitet alle drei Vorrundenspiele in der Ukraine.

In einer Fernsehdiskussion am Montagabend kamen der Sportfunktionär Michal Listkiewitsch und der einstige Dissident und heutige Präsidentenberater Henryk Wujec zum Schluss, statt die Spiele in der Ukraine zu boykottieren, sollten Merkel und Barroso erst recht hinfahren, um vor Ort Pressekonferenzen einzuberufen, in denen die Inhaftierung und Haftbedingungen Timoschenkos lautstark verurteilt würden. Die „Gazeta Wyborcza“ kommentierte, die Boykottdrohungen deutscher Politiker seien einzig dem beginnenden Wahlkampf geschuldet. Sigmar Gabriel, der mit seinen Boykottforderungen vorgeprescht sei, habe sich bisher weder an Chodorkowskis Inhaftierung in Russland noch an Schröders Lob für Putin gestört.

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