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Der russische Präsident Wladimir Putin.

© dpa

Ukraine-Konflikt: Die Russen vor Wladimir Putin schützen

Im Baltikum muss jetzt dringend gehandelt werden - damit Wladimir Putin nicht der Vorwand für weitere Opfernarrative geliefert wird. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

An der Skrupellosigkeit der Demokratiegegner in Russland kann kein Zweifel mehr bestehen. Mit dem Mord an einem weiteren Kritiker der Autokratie à la Putin haben die Täter eine Aussage getroffen: Wir jagen der Demokratie Kugeln in den Rücken. Auf eine Konfrontation von Angesicht zu Angesicht, auf das Wechseln von Worten, auf Debatte und Dialog verzichten diejenigen, die so eine Tat begehen, offensiv. Da gibt es nichts zu reden, sollen die Kugeln der Skrupellosen sagen.

Putins Vorgehen spiegelt das von Slobodan Milosevic

Gezielte Gesetzesverachtung gehört zum Arsenal politkrimineller Akteure. Die Tat ist eine Botschaft, und dass sie in aller Offenheit begangen wurde, verstärkt diese Botschaft. Sie geschah im Namen des Nationalismus, einer irrationalen Ersatzreligion, eines positiven Gruppen-Rassismus. Der besagt: Nicht weil ich an einem Ort wohne, gehöre ich zu einer Gesellschaft, nicht weil ich etwas leiste, lebe, liebe, sondern weil ich „mythisch“, „von Natur aus“ einer Gruppe angehöre. Radikaler Nationalismus liefert den Vorwand für das Heraussortieren „Anderer“, für Exklusionen vieler Art, für paranoide Aufrüstung, finanzielle Ausbeutung, für das strategische Schüren und Missbrauchen von Emotionen und Terror.
Im April 1987 appellierte Slobodan Milosevic auf dem Amselfeld an Kader der serbischen kommunistischen Partei im mehrheitlich von Albanisch Sprechenden bewohnten Kosovo: „Niemand soll es wagen, euch zu schlagen. Ihr sollt hierbleiben. Dies ist euer Land.“ Der Ort der Rede erinnerte an eine verlorene Schlacht der Serben gegen die Osmanen im Jahr 1389. Der Redner selber suggerierte den Mitgliedern einer gut etablierten, tonangebenden Minderheit, sie werde verfolgt. Er beschwor die Ahnen und „Zeiten des Kampfes“. Massenmediale Verbreitung sorgte dafür, dass die Rede zum nationalen Event stilisiert wurde. Zeithistoriker erkannten in den Ereignissen den Auftakt zu den Zerfallskriegen Jugoslawiens im Zeichen eines serbischen, bald auch kroatischen Nationalismus. In der Dynamik des Konflikts, den russischsprachige Ukrainer und Russen in der Ukraine angezettelt haben, spiegeln sich viele Elemente der damaligen nationalistischen Strategien.

Bosnische Killing Fields

Russlands Massenmedien, ein Großteil seiner Funktionseliten wie der Bevölkerung wirken als Produzenten und Konsumenten solcher Ideologie. Desinformationen über vermeintliche Verbrechen „faschistischer“ Ukrainer werden lanciert. Hybride Kriegsführung mit Milizen ohne erkennbare Truppenzuordnung soll die Beteiligung regulärer russischer Truppen verschleiern, wie damals, in den 1990er Jahren, die Rolle serbischer Soldaten auf den bosnischen Killing Fields vertuscht wurde, sodass die Befehlskette kaum nachzuweisen war.

Ein politisches Klima in Moskau, das Russen zu diskriminierten Opfern in Nachbarländern erhebt, wird rings um den Rand Russlands spürbar. Inzwischen bangt man auch im Baltikum, wo vor 23 Jahren noch die Flagge der UdSSR wehte und heute eine Million ethnischer Russen auf EU-Territorium lebt. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt in Lettland, Estland und Litauen jeweils gut 25 Prozent. Dass viele von ihnen weder die Staatsbürgerschaft noch das Wahlrecht besitzen, ist ein bekannter Makel. Jetzt erhält er zusätzlich eine geopolitische Dimension. Dass Lettlands ehemaliger Außenministerin, der EU-Abgeordneten Sandra Kalniete, die Einreise zur Trauerfeier für Boris Nemzow verweigert wurde, darf durchaus als Warnschuss gedeutet werden.
Wo Wladimir Putin „russische Erde sammeln“ will, muss jeder Vorwand ausgeräumt werden, der weitere russisch-ethnische Opfernarrative liefert. Aufgabe einer demokratischen Diplomatie wäre es, darauf hinzuwirken, dass die Russisch sprechende Bevölkerung der baltischen Staaten ihre Bürgerrechte erhält. Nur so sind sie besser vor einem Kreml geschützt, der darauf aus ist, sie zu „schützen“.

Aber Estland etwa hat Ende Februar Militärparaden zum Nationalfeiertag dicht an der Grenze zu Russland abgehalten. Was könnte willkommener sein für das System Putin? Sofort ließ Russland auf der anderen Seite der Grenze seine Fallschirmjäger üben; Jungs, die Jungs provozieren. Dabei wird gerade auf dem Gelände demokratischer Fahrschüler im Baltikum Verantwortung gebraucht. Jetzt mehr denn je.

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