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Zwischen den Fronten: Ein orthodoxer Priester versucht in Kiew zwischen Regierungsgegnern und Sicherheitskräften zu vermitteln - vergeblich.

© AFP

Ukraine: Kriegsähnliche Zustände in Kiew

Mit dem neuen Demonstrationsgesetz werden die Protestler in Kiew zu Kriminellen. Die Polizei geht gegen sie vor, die ersten Menschen starben. Die Lage in Kiew eskaliert.

Eigentlich kann dieser Bericht aus Kiew gar nicht mehr mit Lena beginnen, jener 60-jährigen ehemaligen Krankenschwester. Lena stand um halb drei in der Nacht zum Mittwoch noch dort, wo wenige Stunden später der erste Demonstrant in Kiew erschossen wurde. Lena hatte wie Hunderte andere eine Eisenstange in der Hand. Sie drosch mit ihr auf das Blech ein, das vor ihr auf der verkohlten Metalltonne lag, immer wieder. Ohrenbetäubenden Lärm produzierten sie. Etwa alle fünf Minuten donnerte dazu ein Böller oder eine Blendgranate.

Jeder, der auf dem Platz vor dem Dynamo-Kiew-Stadion im Zentrum der Hauptstadt eintraf, zuckte unwillkürlich zusammen vor Schreck. Aber Lena lachte. Vier Stunden hatte sie dort schon gestanden, bei minus 15 Grad, eisigem Wind, Schneegestöber. Sie trug eine Pelzmütze, einen Mundschutz, ihren dicken Pelzmantel, drei Pullover. Vielleicht war sie die älteste aller Demonstranten auf dem Platz. Wie alle anderen schlug sie pausenlos auf das Metall, damit Victor Janukowitsch, „der Verbrecher“, sie hören konnte. So sagte sie es und freute sich, weil die Spezialeinheiten des Präsidenten, die auf der anderen Seite der Front hinter den ausgebrannten Bussen und Lastwagen warteten, nicht angriffen. Lena hoffte, es werde so bleiben, aber sie irrte sich.

So sagte sie es und freute sich, weil die Spezialeinsatzpolizisten des Präsidenten, die auf der anderen Seite der Front hinter den ausgebrannten Bussen und Lastwagen warteten, nicht angriffen. Lena hoffte, es bleibt so, aber sie irrte sich. Und deshalb muss jeder Text nach der Nacht, in der die ersten Menschen bei der Straßenschlacht in Kiew starben, eigentlich mit Empörung und Entsetzen beginnen.  

Der Einsatz von Schusswaffen war undenkbar

Kiews Zentrum hat sich in den vergangenen Wochen radikal gewandelt. Noch im Dezember herrschte bei ersten Protesten gegen Janukowitsch und seine Ankündigung, das EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen, auf dem Maidan optimistische Stimmung. Auf der Bühne spielten durchgängig Bands, davor tanzten zehntausende Ukrainer, Freiwillige verteilten Tee, belegte Brote und Suppe. Als die Polizei den Platz im Zentrum der Stadt räumen wollte, verzichteten die Beamten weitestgehend auf Gewalt. Der Einsatz von Schusswaffen war undenkbar. Inzwischen tanzt niemand mehr auf dem Maidan. Nachts stehen noch einige hundert Männer dort, sie tragen Motorrad- oder Bauarbeiterhelme, dazu Holzknüppel oder Gartenhacken. Ihre Unterarme haben viele mit Schienbeinschonern vom Fußball oder mit Holzbrettern und Plastikteilen geschützt. Im besetzten Rathaus, in dem bis zu 500 dieser Laiensoldaten schlafen, versperren Ordner von der rechtsextremen Swoboda-Partei den Weg in die oberen Etagen. Es heißt, die Verletzten bräuchten Ruhe.

Seit Mitternacht gelten in der gesamten Ukraine die neuen Antiterror-Gesetze. Vergangenen Donnerstag wurden sie mit Präsidentenmehrheit im Parlament verabschiedet, von Janukowitsch unterschrieben und am Dienstag in zwei Zeitungen veröffentlicht. Offiziell hat die Regierung somit zwar nicht den Ausnahmezustand verhängt, aber eine ähnliche Situation hergestellt. Lena und jene, die vor dem Eingangstor zum Dynamo-Kiew-Stadion oder die Straße runter auf dem Maidan stehen, handeln demnach gesetzeswidrig. Wenn die Beamten sie erwischen, könnten sie im Gefängnis landen. Die Ukraine droht sich in einen Polizeistaat zu verwandeln.

Die Antwort war Tränengas

Schon am Sonntagabend begannen Jugendliche, Pflastersteine und Molotow-Cocktails auf Polizisten und Polizeibusse zu schleudern. Die Antwort waren Tränengas, Blendgranaten und Scharfschützen mit Gummigeschossen. Die Straßenschlacht begann etwa 800 Meter vom Maidan entfernt. Den Protestlern gelang es, acht Polizeibusse zu besetzen. Manche glauben, die ersten Randalierer hätten sich im Auftrag der Regierung unter die Protestierenden gemischt. Auch Lena sagt, die Gewalt sei zunächst von Provokateuren ausgegangen, sie habe es gesehen. Bald darauf jedoch entwickelte sich ein unkontrollierbarer Straßenkampf, in dem sich auch radikale Ultrafans von Dynamo Kiew und jugendliche Anhänger der rechtsextremen Swoboda-Partei gegen die Polizisten stellten.

Um genau das zu verhindern, hatte sich am Dienstagabend gegen 22 Uhr eine Gruppe von Priestern zwischen die Demonstranten und die Polizisten mit ihrer Wand aus Schutzschildern gestellt. Die Geistlichen redeten gemeinsam mit Oppositionspolitikern auf die Laienarmee der Protestler und die Sondereinsatzkommandos der Regierung ein. Es sollte eine Nacht des Friedens werden, um die Gemüter zu beruhigen. Kurz nach dem Morgengrauen, gegen 7 Uhr 30 Ortszeit, traten vor dem Dynamo-Kiew-Stadion jedoch allmählich kriegsähnliche Zustände ein.

Der Getötete war seit Anfang Dezember in Kiew

Die Polizisten gingen gegen die Protestler vor, durchbrachen deren Barrikaden, nahmen einzelne Demonstranten fest. Weil aber immer mehr zu den Ausschreitungen kamen, gelang es ihnen, die Polizei zurückzudrängen. Die Menschen schrien „Schande“, später auch „Mörder“, als die Nachricht von den ersten Todesopfern die Runde machte. Die Kugeln, die sie trafen, sollen keine Gummigeschosse gewesen sein, obwohl die Regierung den Einsatz scharfer Munition bestreitet. Während Premierminister Mykola Asarow die Todesfälle den „Terroristen vom Maidan“ anlastete, rief Präsident Viktor Janukowitsch am Mittwoch die Opposition zu Verhandlungen auf: „Ich bin gegen Blutvergießen“, erklärte er. „Es ist noch nicht zu spät, den Konflikt auf friedlichem Wege beizulegen.“

Doch am Mittwochnachmittag lag eine Ahnung von Bürgerkrieg in der Luft. Schwarze Rauchschwaden verhüllten den Maidan. Die Demonstranten hatten Autoreifen angezündet, um den Sondereinheiten die Sicht zu nehmen. Die wiederum forderten in den Einkaufszentren rund um den zentral gelegenen Boulevard Ladenbesitzer auf, bis 16 Uhr ihre Geschäfte zu schließen – gerüchteweise hieß es, die gewaltsame Stürmung der Straße stehe unmittelbar bevor. Tatsächlich aber nahmen dann, während im Stadtzentrum vereinzelt Panzerfahrzeuge auffuhren, nachmittags die Konfliktparteien am Verhandlungstisch Platz: auf der einen Seite Janukowitsch, auf der anderen das Triumvirat der Opposition, bestehend aus Boxweltmeister Vitali Klitschko sowie dem Nationalistenführer Oleg Tjagnibok und Arsenij Jazenjuk, dem Chef von Julia Timoschenkos „Vaterland“-Partei. Drei Stunden lang diskutierten sie – und kamen doch zu keinem Ergebnis.

Die Opposition bleibt kämpferisch

Als die drei Oppositionellen am Abend auf der Bühne des Maidan zu den Demonstranten sprachen, gaben sie sich kämpferisch. „Wir werden weiter auf dem Platz stehen und kämpfen, wenn es nötig wird“, rief Vitali Klitschko. Vor zehntausenden Demonstranten forderte er die Polizisten auf, sich der Opposition anzuschließen, der Regierung drohte er mit einer „Offensive“. Selbst wenn es den verfeindeten politischen Lagern doch noch gelänge, sich zu einer gemeinsamen Position durchzuringen, dürfte eine friedliche Beilegung des Konflikts immer schwieriger werden. So weit hat sich der radikalisierte Teil der Protestler inzwischen von den Oppositionsparteien entfernt, dass Klitschko und seinen beiden Mitstreitern der Hebel fehlt, um die Ausschreitungen zu stoppen. Über Wochen hat sich eine Frustration angestaut, die sich nun Bahn bricht. Frustration über die erfolglose Strategie der Opposition, die der Regierung nicht das geringste Zugeständnis abtrotzen konnte, Enttäuschung aber auch über die ständigen Solidaritätserklärungen westlicher Politiker, die Hoffnungen weckten, die sie nicht erfüllten, auf konkrete Unterstützung, die ausblieb. Viele, die nun an den Barrikaden kämpfen, scheinen die Hoffnung auf politische Lösungen schlicht aufgegeben zu haben. Zu ihnen gesellen sich gewaltbereite Nationalisten aus der Westukraine, die an solchen Lösungen ohnehin kaum interessiert sind.

Einer der Getöteten wurde inzwischen als Serhij Nihojan identifiziert, ein junger Mann aus der Ostukraine, der seit Dezember in Kiew demonstriert haben soll. Er wäre damit genauso lange Teil der Proteste gewesen wie Lena. Die 60-Jährige hat Mittwochnacht bis zum Morgengrauen in der Nähe des Dynamo-Kiew-Stadions ausgehalten. Erst als die Polizei vorrückte, ließ sie die Eisenstange fallen und lief mit Tränen in den Augen davon.

Quelle: zeit.de

Steffen Dobbert

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