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Demonstranten protestieren 2013 gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa vor dem Bundeskanzleramt.

© Maurizio Gambarini/dpa

Umverteilung oder Beteiligung: Europa hat ein massives Gerechtigkeitsproblem

Zur Überwindung von Armut braucht es mehr als Umverteilung. Der Staat muss seine Bürger aktivieren. Ein Essay.

Nicht schief, sondern schräg ist der Turm. Manche sehen darin ein Symbol. Als das Gebäude der Europäischen Zentralbank am 18. März in Frankfurt am Main eingeweiht wurde, war der Protest vehement. „Es gibt nichts zu feiern an Sparpolitik und Verarmung.“ So hieß die programmatische Feststellung von Blockupy. Man wollte das „Event der Macht und des Kapitals unterbrechen“. Daraus wurde eine gewalttätige Demonstration. Die Aktivisten waren zum Teil von weither angereist und setzten erprobte Demonstrationsstrategien ein. Die Inhalte, um die es gehen sollte, wurden durch die rohe Gewalt des Vorgehens in den Hintergrund gedrängt. Auf Blockupy kann man sich nicht mehr berufen, wenn man Veränderungen für notwendig hält. Für den Ruf nach mehr Gerechtigkeit ist ein solches Vorgehen ein Bärendienst.

Europa ist nicht gerecht

Dabei gibt es wichtige Gründe für einen Gerechtigkeitsdiskurs in Europa.

Der erste Grund besteht darin, dass Europa eine Wertegemeinschaft sein will. Auch wenn der europäische Wertekanon so plural ist wie der Kontinent selbst, gibt es an der zentralen Stellung der Gerechtigkeit keinen Zweifel. Zwar schrieb die Französische Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – liberté, égalité, fraternité – auf ihre Fahnen. Sie gab damit der Gleichheit den Vorrang vor der Gerechtigkeit. Seitdem wird gegen die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit immer wieder eingewandt, sie sei einer Gleichheits-„Ideologie“ verhaftet. In der deutschen politischen Diskussion bemüht man sich deshalb um eine politisch korrektere Sprache. Sowohl CDU als auch SPD berufen sich auf die Grundwerte-Trias von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Nur in der Reihenfolge dieser drei Werte unterscheiden sie sich noch; die CDU stellt die Solidarität vor die Gerechtigkeit. Die christlichen Kirchen bekräftigen diese Grundwerte auf ihre Weise. In ökumenischer Einmütigkeit sprechen sie sich in ihrem Sozialwort von 1997 „für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ aus. In ihrer Ökumenischen Sozialinitiative von 2014 mahnen sie die „gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ an.

Wolfgang Huber war von 1994 bis 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und von 2003 bis 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er ist Dechant des Doms zu Brandenburg.
Wolfgang Huber war von 1994 bis 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und von 2003 bis 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er ist Dechant des Doms zu Brandenburg.

© Paul Zinken/dpa

Christliche Grundüberzeugungen finden damit Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs. Zu ihnen gehört das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes. Ihr antwortet der Mensch mit dem Bemühen darum, dass die Eigenliebe die Liebe zum Mitmenschen nicht an die Wand drückt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Die Aufmerksamkeit für Menschen, die in ihren Lebenschancen bedroht, von Verletzungen beeinträchtigt, durch Armut gedemütigt, durch Unrecht zur Flucht gezwungen sind, schärft den Blick auf die gesellschaftliche Lage insgesamt. Der Blick der Barmherzigkeit lenkt die Aufmerksamkeit dahin, wo es an Gerechtigkeit fehlt. Ungerechtigkeit zeigt sich dort, wo Menschen missbraucht, ausgebeutet, ja ausgeschlossen werden. Das sind Verhältnisse, von denen Papst Franziskus sagt: „Diese Wirtschaft tötet.“

Seinem scharfen Wort halten wir schnell entgegen: Nicht bei uns. Aber Tod durch Ausschluss gibt es auch in einem wohlgeordneten und wohlhabenden Land. Menschen die ungehinderte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, ist das erste Gebot der Gerechtigkeit.

Die europäische Wertediskussion kommt ohne die Gerechtigkeit nicht aus.

Die europäische Wertediskussion kommt ohne die Gerechtigkeit nicht aus. Ohne sie ist das Bekenntnis zur gleichen Würde jedes Menschen unglaubwürdig. Denn wenn es im Blick auf die Menschenwürde keinen Unterschied gibt, müssen auch die Zugangschancen zu einem selbstbestimmten Leben, zum autonomen Verfolgen der eigenen Pläne, zur Wahl von Lebensform und Beruf – kurzum zu all dem, was wir Freiheit nennen, gleich sein.

Mit dem Bekenntnis zur unantastbaren Menschenwürde ist es unvereinbar, wenn Freiheit und Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt werden. Das ist der Pferdefuß an der Wirtschaftstheorie, die man neoliberal nennt und für die Milton Friedman der eine, Friedrich August von Hayek der andere Stammvater ist. Beiden ist gemeinsam, dass sie das Interesse an sozialer Gerechtigkeit als einen Angriff auf die Freiheit betrachten. Dabei setzen sie die Freiheit schlechthin mit ihrer eigenen, höchst speziellen Auffassung von freier Marktwirtschaft gleich.

Schon im Grundsätzlichen geht es bei dem Streit um die Gerechtigkeit um sehr viel. Dieser Streit ist noch keineswegs ausgestanden. „Sozialdemokratische“ Politik, wie sie derzeit beiden Partnern der Großen Koalition unterstellt wird, löscht den vermeintlichen Antagonismus von Freiheit und Gerechtigkeit keineswegs aus. Achselzuckend berufen sich Gerechtigkeitsskeptiker auf die unausweichlichen Folgen der Globalisierung und auf die Zwangsläufigkeiten der europäischen Einigung.

In den südeuropäischen Ländern sind 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen arbeitslos

Umso wichtiger ist der zweite Grund: Europa hat ein massives Gerechtigkeitsproblem. Man kann das an der Tatsache verdeutlichen, dass in südeuropäischen Ländern mehr als die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos ist. Zwar ist das eine Übertreibung. Denn dieser Anteil ergibt sich nur, wenn man die Jugendarbeitslosigkeit auf die Gesamtzahl der arbeitssuchenden Jugendlichen bezieht. Zu ihnen werden aber nur diejenigen gezählt, die sich nicht in Bildung, Beschäftigung oder Praktikum befinden – Not in Education, Employment, Training. Nur wenn man von dieser NEET-Quote ausgeht, kommt man für Länder wie Griechenland, Spanien oder Italien auf einen Umfang der Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent. Bezieht man dagegen die Jugendlichen ein, die sich in Bildung, Ausbildung, Praktikum oder Beschäftigung befinden, beträgt die Arbeitslosigkeitsquote in den betreffenden südeuropäischen Ländern zwischen 20 und 25 Prozent. Das ist immer noch viel, auch verglichen mit der Quote von 6,3 Prozent in Deutschland. Aber es handelt sich dann um ein Gerechtigkeitsproblem, das man anpacken kann; es gibt keinen Grund, vor ihm fatalistisch zu kapitulieren.

Was ich unter Gerechtigkeit verstehe

Demonstranten protestieren 2013 gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa vor dem Bundeskanzleramt.
Demonstranten protestieren 2013 gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa vor dem Bundeskanzleramt.

© Maurizio Gambarini/dpa

Die Jugendarbeitslosigkeit ist nur eines der gravierenden Gerechtigkeitsprobleme in Europa. Die Verarmung weiter Bevölkerungsteile Griechenlands durch das Zusammenwirken von wirtschaftlichem Niedergang und unverantwortlicher Finanz- und Wirtschaftspolitik mit neuen Belastungen durch die Reformverlangen der Kreditgeber ist ein anderes Beispiel. Zu Recht betrachten Kritiker diese Situation aus der Perspektive der Ärmsten, die Hunger und Not leiden, während die Wohlhabenden ihre Schäfchen schon längst ins Trockene gebracht haben. Doch bei aller Empörung über eine solche Situation bleibt zu bedenken: Ohne eine solide Wirtschaftspolitik und ohne eine Stabilisierung der eigenen Finanzen vermag kein Staat der Armut dauerhaft etwas entgegenzusetzen. Die einen kritisieren die Maßnahmen zur Rettung Griechenlands als illusionär, weil die nötige Veränderung der staatlichen Politik gar nicht erkennbar ist. Die anderen verwerfen sie, weil sie sich zulasten der schwächeren Bevölkerungsteile auswirken. Wo bleibt dabei die Gerechtigkeit?

Angesichts solcher Kontroversen ist es angezeigt, dem allzu oft schwammig verwendeten Begriff der Gerechtigkeit etwas mehr Kontur zu geben.

Zunächst kommt es darauf an, ob wir Gerechtigkeit als persönliche Tugend oder als Tugend von Institutionen verstehen. In beiden Fällen geht es im Kern um wechselseitige Fairness. Im persönlichen Verhalten ist es fair, dem anderen das zu geben, was ihm gebührt, sei es Anerkennung oder Bezahlung, Lohn oder Strafe. Der faire Austausch zwischen Einzelnen ist das Grundmuster der Gerechtigkeit. An Kaufverträgen und Arbeitsverträgen werden die Probleme dieser ausgleichenden Gerechtigkeit immer wieder durchbuchstabiert. Der gerechte Preis und der gerechte Lohn bilden die Paradebeispiele für diese Art von Gerechtigkeit. Die Frage liegt auf der Hand: Wann ist ein Preis oder ein Lohn schon einmal gerecht? Was den einen zu wenig ist, ist den anderen zu viel. Zu mehr als zu Annäherungen an die Gerechtigkeit wird man niemals kommen. Gerechtigkeit bleibt eine Utopie. Trotzdem bemüht sich jede Generation von Neuem darum.

Alle müssen den gleichen Zugang zu Freiheit haben

Als Tugend von Institutionen meint Gerechtigkeit eine soziale Ordnung, in der die Glieder einer Gesellschaft den gleichen Zugang zur Freiheit haben, auch wenn sich damit das Recht verbindet, von dieser Freiheit einen unterschiedlichen Gebrauch zu machen. Gesellschaftliche Gerechtigkeit ist aus diesem Grund sowohl daran ausgerichtet, die individuelle Leistungsbereitschaft zu motivieren und zu honorieren, als auch denen zur Seite zu stehen, die an den Rand geraten, elementaren Lebensrisiken nicht gewachsen sind und der Hilfe bedürfen. Der vorrangige Blick auf vulnerable Bevölkerungsgruppen gehört zum Wesen der Gerechtigkeit, die deshalb als „sozial“ bezeichnet wird.

Mit ihr verbindet sich die Frage, auf welche Gewährleistungen durch die politische Ordnung die Einzelnen angewiesen sind, damit sie unter fairen Bedingungen leben können. Der Ausgleich gravierender sozialer Unterschiede tritt in den Blick. Die Verteilungsgerechtigkeit wird zum Thema. An den Staat richtet sich die Frage, wie weit er soziale Diskrepanzen überwinden, den Gegensatz zwischen Reich und Arm abmildern, dem Absturz in Armut durch sozialen Ausgleich zuvorkommen kann. Manche sehen darin ein Fass ohne Boden. Große Fragen liegen auf der Hand: Wem gelten die Verteilungsaktionen des fürsorglichen Staats? Allen Bürgern oder allen Menschen? Flüchtlingen genauso wie Einheimischen? Jungen wie Alten? Parolen vom vollen Boot oder vom Methusalem-Komplott malen das Schibboleth des überforderten Staats an die Wand. Die stark Beanspruchten fragen, wo die Belastungen ein Ende finden, denen sie durch Steuern und Abgaben ausgesetzt sind. Wann schlagen die Forderungen des umverteilenden Staats in eine Freiheitseinschränkung für die um, die dafür in vorderster Front zur Kasse gebeten werden? Auch das ist eine Gerechtigkeitsfrage. Man muss die Betroffenen zumindest davon überzeugen, dass ihr Geld gut eingesetzt wird.

Deshalb kann man der Frage nicht ausweichen, ob Umverteilung als solche einen Beitrag zur Überwindung der Armut leistet. Die Antwort ist ernüchternd: Umverteilung ist unentbehrlich, um die Folgen der Armut zu mildern und Menschen ein halbwegs erträgliches Auskommen zu sichern. Doch zur Überwindung von Armut braucht es mehr. Auf Dauer wird nur der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor Armut bewahren, der sie zu aktivieren versteht. Versorgung allein kann nicht genügen; sie ist auf eine genügend große Zahl von Menschen angewiesen, die für sich und andere sorgen können. Verteilung allein schafft keine Gerechtigkeit; sie setzt voraus, dass genügend Menschen aus eigener Kraft zum Sozialprodukt beitragen. Eine Gesellschaft kann die Kraft zur Solidarität nur aufbringen, wenn sie ihren Bürgerinnen und Bürgern Chancen zur aktiven Teilhabe eröffnet.

Deshalb ist der Schritt von der Verteilungsgerechtigkeit zur Beteiligungsgerechtigkeit nötig

Deshalb ist der Schritt von der Verteilungsgerechtigkeit zur Beteiligungsgerechtigkeit nötig. Teilhabe ist so wichtig wie Verteilung, Befähigung so wichtig wie Versorgung. Wenn wir die Gerechtigkeit als Tugend eines Gemeinwesens verstehen wollen, dann muss es vor allem eine aktivierende Gerechtigkeit sein, die Menschen dazu befähigt, von ihren Begabungen Gebrauch zu machen und ihren Beitrag zum gemeinsamen Leben zu leisten. Wer den Drehtüreffekt des Sozialstaats überwinden will, muss die Tür zu gesellschaftlicher Beteiligung so öffnen, dass sie nicht sofort wieder zuschlägt. Diese Tür hat einen Namen: Bildung. Bildungshindernisse müssen nach Kräften überwunden, Bildungschancen verbessert, Bildungsbemühungen honoriert werden. Das gilt nicht nur für eine Wissensgesellschaft, deren wichtigster Rohstoff Bildung ist. Es gilt generell. Soziale Gerechtigkeit ist im Kern Befähigungsgerechtigkeit.

Wir berufen uns auf die gleiche Würde jedes Menschen. Wir sehen sogar in jedem Menschen, also auch in jedem Kind und jedem Jugendlichen ein Bild Gottes. Dass wir ihm den Zugang zu Bildung verschaffen, ist die zwingende Konsequenz. Ein Gemeinwesen, das die Befähigungsgerechtigkeit auf seine Fahnen schreibt, macht aus der Drehtür eine Tür ins Freie. Es anerkennt gerechte Teilhabe für alle als seine wichtigste Aufgabe.

Wolfgang Huber

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