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"Und erlöse uns von allen Üblen" #23: Eine Flagge wird einkassiert

Die Ermittler im Mordfall Freypen suchen nach einem Tatmotiv. Die Partei des Toten plant die Trauerfeier. Ein Fortsetzungsroman, Teil 23.

Was bisher geschah: Die Polizei will vom Leibwächter des erschossenen Parteichefs mehr erfahren. Der verrät nicht alles.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 23 vom 8. Juli.

Der Schreibtisch des Ermordeten wirkte unberührt, sogar das vertrocknete Blut schien dazuzugehören wie die Telefonanlage, die Quarzuhr oder das gerahmte Foto seiner Frau und seiner beiden Kinder. Musste ein altes Bild sein, denn die Töchter waren inzwischen erwachsen und der Kontakt mit ihrem Vater beschränkte sich auf Kurzbesuche an Weihnachten. Wenn Freypen für sogenannte Homestorys heile Familie spielen musste, hatten die nur deshalb mitgemacht, um nicht ihre monatlichen Schecks zu gefährden.

Es war also ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, aber das wusste außerhalb der Familie nur Karl Mulder. Der hatte darauf geachtet, nichts zu verändern, als er in den vergangenen drei Stunden Zimmer für Zimmer und besonders das von Freypen auf der Suche nach möglichen Papieren durchsuchte, die der Partei schaden könnten.

Das Loch in der Deutschlandfahne, wo die Experten der Mordkommission die Kugel aus dem Verputz geholt hatten, betrachtete Susanne Hornstein länger. Gab sich selbst halblaut sozusagen die Anweisung, den Schusswinkel des Mörders im Hinblick auf seinen möglichen Standort auch von dieser Wand her zu berechnen, nicht nur aus der Perspektive des Toten am Schreibtisch. Es war übrigens tatsächlich Kaliber 7,62, wie sie inzwischen von den Ballistikern wusste. Der Gerichtsmediziner hatte das entsprechende Projektil im Kopf Freypens gefunden und zu den wenigen Indizien vom Tatort legen lassen. Die vom Arzt aufgrund seiner Untersuchungen geschätzte Todeszeit stimmte mit den Aussagen der Bodyguards überein.

Im Autopsiebericht stand zusätzlich nichts Überraschendes. Der zweite Schuss hatte Freypen auf der Stelle getötet. Seine Leiche lag jetzt in der Pathologie. Jemand von seiner Familie sollte ihn, auch wenn dies nur eine Formsache war, sobald wie möglich identifizieren. Dann könnte man den Leichnam zur Bestattung freigeben.

Die BKA-Beamtin hatte nicht erwartet, ausgerechnet jetzt hier mitten in der Nacht etwas zu entdecken, das übersehen worden war. Sie teilte nicht die abschätzige Meinung vieler ihrer Kollegen über die Qualität von Mordkommissionen vor Ort. Andererseits wusste sie auch, was die von denen hielten, die bei solchen Fällen mal kurz einschwebten und FBI spielten. Sie wollte nur ein Gefühl bekommen für die Atmosphäre, die Umgebung, vielleicht sogar für den Ermordeten. Dass sie sogar die Vorstellung nicht abwegig fand, dessen Geist noch spüren zu können, sagte sie natürlich keinem. Da hätte man sie wohl sofort von ihren Aufgaben entbunden.

"Die Flagge", meinte Mulder, der plötzlich so dicht hinter ihr stand, dass sie seinen abgestandenen Atem riechen konnte, "werden wir morgen bei der Trauerfeier hissen. Das heißt, heute, in ein paar Stunden." Woraufhin Susanne Hornstein spontan Georg Krucht bat, die Fahne von der Wand zu nehmen und einzupacken. Kein Problem für einen, der so groß war wie er. Man müsse wohl doch noch ein paar mikroskopische Untersuchungen vornehmen, vor allen Dingen an den Fasern jener Stelle, an der die Kugel eingedrungen war, bevor man sie Mulder überlassen könnte. Aber spätestens Montag oder Dienstag könne er damit rechnen.

Krucht verstand sie sofort, obwohl er sehr wohl wusste, dass es völlig sinnlos sein würde, die Flagge zu untersuchen, aber es war ihm klar, warum sie ihm die Anweisung gegeben hatte. Das wiederum merkte sie sich. Er stieg wieder ein Stück in ihrer Achtung.

Mulders Proteste ließen beide ungerührt. "Aber Sie als ehemaliger Polizist müssten das doch verstehen, Herr Mulder", schleimte Krucht so, dass man die Absicht merkte, "gerade Sie. Wir dürfen uns einfach keinen Fehler erlauben auf der Suche nach dem Mörder, nicht wahr?"

Sie verabschiedeten sich höflich, wünschten noch eine angenehme Nachtruhe, was angesichts der Uhrzeit zynisch gemeint war, und auch daraus machten sie keinen Hehl. Mulder blieb in der Tür stehen und bewahrte nur mühsam seine Fassung. Kaum waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden, trommelte er wütend mit beiden Fäusten an die Wand.

"Wir brauchen die Schusswinkel", sagte Susanne Hornstein im Fahrstuhl zu Krucht, "und zwar schnell. Dann können wir uns am Vormittag die Häuser gegenüber vornehmen, andere kommen ja wohl nicht in Frage. Übrigens, vielen Dank, Herr Kollege, und meine Hochachtung."

Georg Krucht antwortete nicht, aber sie wusste, dass er genau begriffen hatte, worauf sie anspielte und wofür sie sich bedankte. Die Fahne ließen sie im Auto liegen, als sie wieder im Polizeipräsidium ankamen. Allerdings unter einer Decke im Kofferraum.

Und morgen lesen Sie: Die Witwe des erschossenen Parteichefs hält eine Rede.

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