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Für die Verfassungsänderung. Im ungarischen Parlament gab es eine deutliche Mehrheit für die Beschneidung der Rechte des Verfassungsgerichts.

© dpa

Ungarn: Frust statt Protest

Viele Ungarn nehmen die umstrittene Verfassungsänderung achselzuckend hin – dabei greift sie ins Leben der Bürger direkt ein.

Auf den ersten Blick geht am Dienstag in Budapest alles seinen gewohnten Gang. Im Alltagsleben deutet nichts darauf hin, dass am Tag zuvor im ungarischen Parlament eine Verfassungsänderung beschlossen worden ist, welche die Kompetenzen des obersten Gerichts einschränkt. Zu den Änderungen gehört auch, dass Obdachlose künftig mit Geldstrafen rechnen müssen, wenn sie unter freiem Himmel schlafen. Aber am Dienstag sind noch keine Ordnungshüter unterwegs, die die Obdachlosen von den Parkbänken vertreiben.

Auch Studenten müssen sich bislang noch nicht die Frage gefallen lassen, ob sie einen Job im Ausland suchen wollen. Die Frage stellt sich, denn schließlich sollen Empfänger staatlicher Stipendien künftig in Ungarn arbeiten. Dass das Alltagsleben in Ungarn erst einmal seinen gewohnten Gang geht, hängt damit zusammen, dass zahlreiche Regelungen schon einmal Gesetz waren, bevor sie vom Verfassungsgericht wieder einkassiert wurden. Gegen das Verbot, nach dem Studium ins Ausland zu ziehen, gab es vor Monaten noch Studentenproteste. Jetzt, da es in der Verfassung steht, zucken die Studenten nur noch resigniert mit den Schultern. „Wir sind jetzt wohl in Ungarn gefangen“, scherzt ein Wirtschaftsstudent vor der Budapester Wirtschaftsuniversität Corvinus. Die neuen Gesetze lieferten nur einen Beweis, dass die Regierung willkürlich handele, sagt er. Wenn das Verfassungsgericht ein Gesetz verbiete, führt die Regierung es als Verfassungsartikel wieder ein.

Jeder in Budapest hat Freunde oder Verwandte, die Ungarn gegenwärtig verlassen. 500 000 Auswanderer waren es allein in den letzten zwei Jahren. Eine Kindergärtnerin erzählt, dass ein befreundetes Paar nach Südkorea auswandern will. Als Computerspezialisten sehen sie in Ungarn keine Chance mehr für sich. Ob sie dafür jetzt ihre Stipendien zurückzahlen müssen, wie es in dem neuen Verfassungszusatz steht, wissen sie noch nicht.

In den vergangenen zwei Jahren hat sich die 2011 verabschiedete Verfassung nur langsam auf die Lebenswirklichkeit der Ungarn ausgewirkt. Das lag daran, dass die rechtskonservative Regierung von Viktor Orban zunächst die Staatsgewalten neu sortiert hat. So wurde dem Verfassungsgericht die Möglichkeit genommen, über Steuergesetze zu urteilen. Der Abbau der demokratischen Rechte wird erst dann ihre Wirkung entfalten, wenn im kommenden Jahr die nächsten Parlamentswahlen anstehen. Nach der Wahl dürfte sich zeigen, dass der Handlungsspielraum zukünftiger Regierungen deutlich eingeschränkt wird. Kritik an der Verfassung gab es vor allem von Verfassungsrechtlern, die die neue Machtfülle der ungarischen Regierung angeprangert haben.

Die Einschränkung der Medien, die Einflussnahme der Regierung auf die Zentralbank und die Gesetze zur Wählerregistrierung, die letztes Jahr internationale Proteste ausgelöst haben, sind bislang nicht Teil der Verfassung. Einige Änderungen hatte die Regierung zurückgenommen, andere wurden für verfassungswidrig erklärt. Kritiker monierten anschließend, dass demokratische Strukturen in Ungarn noch nicht funktionieren.

Die Verfassungszusätze haben eine neue Qualität. Denn dadurch wird nun direkt in das Leben der Bürger eingegriffen. Es ist durchaus ein ungewöhnlicher Schritt, dass die Regierung nun einfache Gesetze, die das Verfassungsgericht vorher verworfen hatte, in den Verfassungsrang erhebt – mit dem Ziel, die strittigen Gesetz wasserdicht zu machen. Denn die Regierung entzieht dem Verfassungsgericht gleichzeitig die Kompetenz, diese Gesetze zu überprüfen. Obdachlosen das Schlafen auf öffentlichen Plätzen zu verbieten, gehört normalerweise nicht in eine Verfassung. Ebenso nicht die Befugnis, Studenten Beihilfen zu entziehen, wenn sie nach dem Studium ins Ausland gehen. Diese Neuregelungen, die das Leben der Bürger direkt betreffen, sind nicht Teil einer Nachbesserung, sondern eine gezielte Umgehung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.

Wegen der detailreichen Regelungen hat die Verfassung nun eine ganz unmittelbare Bedeutung für die Bürger. Orbans Regierung gibt mit der Änderung zu verstehen, dass sie keine Mittel scheut, um Widerstände gegen ihre Pläne zu umgehen. Die Bürger in Ungarn müssen daher befürchten, dass auf diesem Wege noch weitere Verfassungsänderungen auf sie zukommen – und zwar immer dann, wenn die Regierung meint, ein neues Gesetz sei eigentlich verfassungswidrig.

Justus Daniels

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