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Ungarn: Ihr Problem mit der Macht

Nicht zu viel habe die umstrittene Regierung angepackt, sondern das Falsche, sagen viele Ungarn. Denn die verrottete politische Kultur sei nicht geändert worden. Eine Bestandsaufnahme aus dem Land der Enttäuschten.

Das wahrscheinlich kleinste Protestcamp der Welt besteht aus einem einzigen Zelt. Es versperrt den Haupteingang zur Zentrale des ungarischen Staatsfernsehens in einem Gewerbegebiet in Budapest. Hunderte Mitarbeiter müssen deshalb durch eine Nebentür ins Gebäude gehen, manche schleichen regelrecht, den Blick verschämt abgewandt. Eine Tafel zeigt die Zahl der Tage an, die Aranka Szavuly und Balazs Nagy Navarro hier aus Protest gegen manipulierte Berichterstattung ausharren. Es sind 58.

In diesen 58 Tagen erhielten sie ihre Kündigung, das war in den Weihnachtstagen. Dann brach der Winter herein. Das war vor zwei Wochen. Vor diesen 58 Tagen, am 3. Dezember, hatte der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen Beitrag gesendet, in dem der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes mit gepixeltem Gesicht zu sehen war, so dass er dargestellt war wie ein Krimineller. Der Gerichtshofvorsitzende gilt als kritischer Denker. Und die Verpixelung deshalb als dessen Herabwürdigung im Auftrag der Regierung. Szavuly sagt, sie hätten die Aufklärung dieser bizarren Manipulation gefordert und nicht einmal eine Antwort bekommen. Da stellten sie ihr Zelt auf.

Ihren Kampf gegen das ungarische „Prawda-TV“ nennt Szavuly „unser Guantanamo“. Die 32-Jährige lacht bitter auf, als sie diesen Vergleich zieht. Sie schließt die Knöpfe ihrer Daunenjacke, nippt an ihrem Tee, schaut zum bleichgrauen Himmel hinauf. „Es ist ganz schön kalt geworden, oder?“ Der Winter hat sich erst später als die größte Herausforderung herausgestellt. Zunächst tat der Sicherheitsdienst des Senders, was in seiner Macht stand, die anfangs noch fünf Demonstrierer vor der Tür zu vertreiben. Nachts wurden sie von grellen Scheinwerfern geblendet, tagsüber schallte aus Lautsprechern in Dauerschleife eine Popversion von „Jingle Bells“ und „eine Art Begräbnismelodie“.

Drei Protestler gaben schließlich auf, aus gesundheitlichen Gründen oder um den Kampf für eine freie Presse vom Schreibtisch aus weiterzuführen. Solidarität hätten sie zwar von einigen Kollegen erfahren, sagt Szavuly, „aber die meisten sind eingeschüchtert, haben Angst, ihren Job zu verlieren“.

Seit internationale Medien über die streikenden Journalisten berichten, wurden die Schikanen zurückgefahren. Die Parteien verharren im strategischen Patt. Sei scheinen zu warten – so wie ganz Ungarn darauf zu warten scheint, dass sich etwas tut. Die einen warten darauf, dass Premierminister Victor Orban seine mit großem Pomp vorgetragenen Versprechen von einem besseren Leben in dem fast bankrotten Land doch noch einlöst. Die anderen auf das Scheitern seiner Regierung und neue politische Optionen. Optionen jenseits der Sozialdemokraten und Liberalen, deren Regierungszeit von 2002 bis 2010 vor allem durch Korruptionsaffären und Reformstau gekennzeichnet war – was ja erst zu dem großen Erfolg von Orbans Fidesz-Partei geführt hat. Zu jener überwältigenden Mehrheit, aus der heraus jetzt in nahezu gutsherrenartiger Manier regiert wird.

Die Probleme Ungarns fingen nicht erst mit Orban an

„Das größte Problem an der Orban-Regierung“, sagt denn auch Navarro, „ist schlichtweg, dass sie das Parlament mit ihrer Zweidrittelmehrheit wie eine Gesetzesfabrik betreibt.“ Navarro ist 44, das Auffälligste an ihm sind sein angegrauter Dissidentenbart und die wachen Augen. Schon 2005, unter den Sozialisten, hatte er seine Forderung nach objektiver Berichterstattung mit der Kündigung bezahlt. Es kam zum Prozess, und er wurde wieder eingestellt. Die Anstrengungen der vergangenen Wochen, der Hungerstreik, in den sie anfangs noch getreten waren, dass alles hat bei ihm tiefe Augenringe hinterlassen. Aber müde ist er nicht. Er spricht viel und schnell.

Draußen an ihrem Protestzelt hängen Beweisbilder für weitere Pressemanipulationen. Zum Beispiel dies: Während der großen Anti-Regierungs-Demonstrationen am 2. Januar anlässlich des Inkrafttretens der neuen Verfassung mit ungefähr 100 000 Menschen präsentierten die Öffentlich-Rechtlichen Bilder von teilweise leeren Straßen. Navarro sagt, das habe ihn an die Papstbesuche im kommunistischen Polen der 80er erinnert, als das Zentralfernsehen „statt unzufriedener Bürger den blauen Himmel gefilmt hat“.

Mittlerweile haben Navarro und Szavuly sogar erste Erfolge erzielt. Auf einer Plakatwand mit sieben Namen der Verantwortlichen für den Medienskandal, die auf dem nahen Bürgersteig steht, sind zwei bereits durchgestrichen. Die wurden entlassen. Szavuly und Navarro wollen bleiben, bis auch die anderen fünf führenden Manager Konsequenzen erfahren haben.

Navarro geht zu einem gegenüber vom Sendereingang geparkten Fahrzeuganhänger, den die beiden Protest-Journalisten zum Aufwärmen nutzen. Er sortiert Unterlagen. Am heutigen Dienstag wird sich Premierminister Orban mit einer Rede an die Nation wenden. Überraschungen erwarten die beiden Protestler nicht. Navarro sagt, es sei in Ungarn leider üblich, dass sich die Regierenden das Land untertan machten. Wenig Gutes erwarten sie auch von der Europäischen Union, obschon die sich doch mehrfach bei Orban wegen seiner Gesetzgebung beschwert hatte. „Die EU mäkelt an dem Gesetz herum, das die Unabhängigkeit der Zentralbank einschränkt, weil hier klare wirtschaftliche Interessen im Spiel sind“, klagt Navarro. Dabei gehe es in Ungarn gerade wegen der neuen Verfassung um viel grundsätzlichere Fragen.

Einer der Autoren dieser neuen Verfassung ist Fidesz-Vizepräsident Gergely Gulyas. Der erst 30-Jährige wirkt äußerlich wie das Gegenteil des heißblütigen Premiers Orban, er spricht leise und konzentriert, den Blick oft nach unten gerichtet, während er und der Vorsitzende der ungarischen Christdemokraten, Tamas Lukacs, in einem Restaurant nahe dem Parlament ausländischen Journalisten das neue Ungarn zu erklären versuchen. Die Unabhängigkeit des Justizapparates? Das die Fidesz begünstigende Wahlgesetz? „Selbstverständlich halten wir demokratische und europäische Werte aufrecht“, sagt Gulyas. Warum das einzige oppositionelle Radio des Landes, Klubradio, keine Lizenz mehr bekommt? „Sie haben eine rechtlich einwandfreie Ausschreibung verloren.“ Fragen beantwortet Gulyas mit der Präzision eines Juristen. Die von Orban gerne geführten nationalchauvinistisch daherkommenden Begrifflichkeiten wie „gesunde Volksseele“ und „fremdherzige Bürger“ gehören nicht zu seinem Vokabular.

Fidesz will der Geschichte auf die Sprünge helfen

Wie andere Fidesz-Politker bestätigt er, dass die Partei das Land vielleicht zu schnell reformiert habe, in der Sache habe Fidesz jedoch recht. Die Zweifel der EU-Politiker an der demokratischen Gesinnung der Fidesz führt er vor allem auf mangelndes Verständnis für die politische Situation in Ungarn zurück – und natürlich könnte man über die „Anpassung“ einiger Gesetze reden. Auffällig an den Aussagen vieler Fidesz-Funktionäre ist, dass sie oft die exakt gleichen Worthülsen verwenden. Als die Journalisten nachfragen, schaltet sich Tamas Lukacs ein. Europa solle sich doch bitte daran erinnern, dass die Ungarn während der Türkenkriege den Kontinent verteidigt haben. „Der ungarische Kommunismus hatte keine nationale Note“, sagt er. „Unser Volk braucht Orientierung.“ Auch der Begriff „Trianon“ fällt, für viele Ungarn ist das heute noch das, was Versailles für die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg war. Der Vertrag von Trianon zerstörte jenes „Großungarn“, dessen Karte heute viele als Aufkleber auf den Heckklappen ihrer Autos spazieren fahren. Doch als rückwärtsgewandt will Gulyas nicht gelten, vielmehr werde erst „mit unserer neuen Verfassung die Transformation vom Kommunismus zur modernen Demokratie“ abgeschlossen.

So befremdlich diese Sicht der Dinge scheint, so auffällig ist der Mangel an Vergangenheitsbewältigung in Ungarn. Selbst Orte, die helfen sollen, nationale Traumata zu verarbeiten, spalten statt zu versöhnen. So präsentiert das aufwendig gestaltete „House of Terror Museum“ nahe der Budapester Oper zunächst in einigen Räumen die Zeit des Naziterrors, um anschließend auf mehreren Stockwerken die Schrecken des Kommunismus zu betonen, der als die zweite dunkle Seite des Totalitarismus dargestellt wird. Selbst der deutsche Historikerstreit wirkt hier nach, Ernst Nolte ist in dem Museum ein gefeierter Mann. Aufgebaut wurde es während der ersten Amtszeit von Orban zwischen 1998 und 2002, später wollten die Sozialdemokraten die Mittel kürzen, doch die Museumsleitung stellte sich erfolgreich quer. So wurde aus nationaler Aufarbeitung eine lähmende Debatte.

Ein paar Kilometer weiter, in einem Souvenirladen in der Einkaufsstraße Vaci Utca, verkaufen sich T-Shirts mit dem Aufdruck „I don't need sex, the government fucks me every day“ derzeit besonders gut, bestätigt der Verkäufer. Draußen stehende Studenten lehnen jedoch nicht nur die Orban-Regierung ab, sie halten die gesamte politische Klasse des Landes für ungeeignet. „Es ist verrückt, Fidesz hat mal als liberale Partei angefangen, war vor allem bei jungen Leuten beliebt“, sagt einer. „Die Opposition ist heillos zerstritten, wir brauchen eine neue Bewegung“, ruft ein anderer. Nein, politisch seien sie alle nicht, „wir haben die Schnauze voll“.

Nicht zu viel habe Fidesz angepackt, sondern das Falsche. Die verrottete politische Kultur sei nicht geändert worden. Zu vieles funktioniert zu schlecht, die Pleite der staatlichen Fluggesellschaft Malev am Freitag war dafür noch ein Indiz. Diese große Enttäuschung ist überall greifbar – und der Protest der beiden ehemaligen Staatsfunkjournalisten in diesem Chor nur ein Stimmchen. Ungarn brauche Reformen, Vertrauen und Aufschwung. So denken inzwischen viele, wenn auch ohne große Hoffnung. Meinungsforscher bestätigen diesen Trend. Die mit Abstand größte Partei im Land ist ihnen zufolge die der Nichtwähler.

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