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Fidesz-Anhänger in Budapest.

© Imago

Ungarn vor den Wahlen: Vom Musterschüler zum Sitzenbleiber

So sehr Rechte und Linke in Ungarn verfeindet sind, ein gemeinsames Ziel haben sie: Einen weiteren Wahlsieg der Regierung Viktor Orbán verhindern. Doch eine Mehrheit hat sich gut eingerichtet mit einer Existenz am Rand der EU.

Das Hakenkreuz auf der Stirn von Lorántné Hegedüs ist verkehrt herum. Jemand hat deswegen eine Gebrauchsanweisung zum Schmieren von Nazisymbolen ins Internet gestellt. Nun lächelt Lorántné Hegedüs des Öfteren mit kleinem, zentriertem Lippenbärtchen und korrektem Hakenkreuz im Gesicht von ihren Plakaten.

Lorántné Hegedüs ist eine Direktkandidatin der rechtsextremen ungarischen Jobbik-Partei, und an diesem verregneten Sonntagnachmittag Ende März kümmern sie ihre beschmierten Wahlplakate herzlich wenig. Die 44-Jährige steht in Tompa, das Dorf liegt drei Stunden Fahrt mit dem Bummelzug und eine Stunde Fußmarsch entfernt von ihrem Wahlbezirk im Herzen der Hauptstadt, Budapest I. Rund zwei Dutzend potenzielle Wähler starren gebannt auf die Merkel-Raute, die Lorántné mit ihren Händen formt. Jobbik hat zur Wahlveranstaltung geladen. Für die Partei wohnt kein Wähler zu abgelegen. Die strukturschwachen Regionen im Süden und Osten Ungarns sind wahre Fundgruben für Populismus von rechts. Und Lorántné Hegedüs, in ihrem grauen Businessanzug, ist der Star hier. Am kommenden Sonntag wählen die Ungarn ein neues Parlament. Vor vier Jahren verschafften sie der neokonservativen Fidesz-Partei im Wahlbündnis mit der inzwischen in ihr aufgegangenen Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Auch jetzt steht Regierungschef Viktor Orbán in allen Meinungsumfragen unangefochten vorn. So sehr Rechtsextreme und Linke verfeindet sind – ein gemeinsames Ziel haben sie doch: sein ungehindertes Durchregieren mit absoluter Mehrheit verhindern.

Das Publikum seufzt nostalgisch

In Tompa streift Lorántné Hegedüs ihren Anzug glatt, klammert sich links und rechts an ihren Schal, holt tief Luft und redet eine halbe Stunde ohne Punkt und Komma. Der enge Gemeinderaum, in dem sie steht, ist mit dunklem Holzimitat ausgekleidet. Eine senfgelbe Glühbirne flackert an der Decke. Von Tompa aus ist es nur noch ein kurzer Spaziergang nach Serbien, vorbei an kläffenden Hunden und gackernden Hühnern. Hegedüs sagt, sie wolle die ungarische Minderheit in Serbien wieder ins Mutterland holen: „Die EU spricht von der Krim-Krise, als wäre es etwas Unnatürliches, dass Menschen in ihre Heimat zurückkehren wollen.“ Auch die Ungarn in Rumänien, der Ukraine und in Serbien wären gern Bürger ihres Ursprungslands, und das solle diese Gefühle endlich erwidern. Das Publikum seufzt nostalgisch.

Lorántné Hegedüs reist durchs Land, um sich wieder ins Parlament wählen zu lassen. In der letzten Wahlperiode hat sie es zu einiger Bekanntheit gebracht: Sie engagierte sich für die Gründung eines „antizionistischen Ausschusses“ im Parlament, demonstrierte gegen Gentechnik und Abtreibung und trug demonstrativ die Uniform der „Ungarischen Garde“, einer paramilitärischen Bürgerwehr. Zu jedem Thema, das bei der Wahlveranstaltung zur Sprache kommt, hat Lorántné Hegedüs sofort eine Antwort parat: EU? Überflüssig! Ausländisches Kapital? Böse! Ungarn den Ungarn!

Zur Fragestunde erheben sich viele Hände im Publikum. Erde unter den Fingernägeln, verhornte Risse auf den Handflächen, Motorölflecken an den Ärmeln zeigen, dass die meisten hier für ihr Geld hart arbeiten. Ein Mann beschwert sich über die schlechte Gesundheitsversorgung in ländlichen Gebieten, jemand sorgt sich, dass sein Ungarn bald ausstirbt, weil so viele Menschen auswandern. Eine ältere Lehrerin sagt, dass eben nur Politiker wie Lorántné Hegedüs bestimmte Ungerechtigkeiten ansprechen würden. „Das Roma-Problem“, sagt sie.

Keine ernstzunehmende Kraft links von Fidesz

Jobbik ist roma- und fremdenfeindlich, homophob, antisemitisch. Dass die Partei deswegen als Naziversammlung beschimpft werde, das mache ihm nichts aus, sagt der lokale Kandidat aus Tompa. Lorántné Hegedüs nickt. Viele Einwohner von Tompa loben Jobbik, weil die schrillen Töne von früher heute weniger bedrohlich wirken. Während die Wahlwerbespots der Partei vor vier Jahren noch Tränengaskartuschen, „kriminelle Roma-Clans“ und Untergangsszenarien zeigten, spielen ihre Politiker heute mit Hunden und essen Truthahn vor der Kamera. Manche trauen Jobbik zu, bis zu 20 Prozent der Stimmen zu gewinnen. Zweite politische Kraft im Land könnten sie werden.

Das Feindbild von Politikern wie Lorántné Hegedüs sitzt mitten in ihrem Wahlbezirk, in einem Café in Budapest I. Armin Langer, 23 Jahre alt, Rabbinerstudent, schwul. So etwas wie ihn will Jobbik in Ungarn nicht sehen. Als Kandidat für die linke Partei „Vierte Republik“ wollte er ein Zeichen setzen gegen Jobbik, zusammen mit Omar Salha, dem Parteigründer, der sich nun in einen Plastikstuhl neben Langer fallen lässt. Doch bevor Langer antreten durfte, scheiterte er bereits an der 500-Unterschriften-Hürde, die jeder Direktkandidat in seinem Wahlbezirk aufbringen muss. In Ungarn gebe es nur rechts und noch rechter, sagt Armin Langer. Linke Kräfte haben es da schwer.

Rechts bekommt zu wenig Gegenwehr von Links

„Wir konnten unsere Wahlhelfer nicht richtig mobilisieren und schon gar nicht koordinieren“, sagen die beiden Männer. Immerhin reichte es knapp für Omar Salha, den Sohn eines palästinensischen Vaters und einer ungarischen Mutter. „Ich habe den Vorteil, dass alle denken, ich wäre Palästinenser und damit automatisch anti-jüdisch“, sagt er im Scherz. Antisemitismus ist in Ungarn ein weitverbreitetes Problem. Die „Vierte Republik“ würde am liebsten ein neues Ungarn schaffen.

Omar Salha und Armin Langer probierten es mit progressiven Themen: Legalisierung von Marihuana, bedingungsloses Grundeinkommen, einer Europäischen Union, die sich „weniger über Kapital und mehr über soziale Themen“ definiert. Doch ihre Sympathisanten malten lieber verkehrte Hakenkreuze auf Plakate von Jobbik, als für die eigenen Werte zu plakatieren oder Unterschriften zu sammeln. Eine ernst zu nehmende Kraft links von Fidesz gibt es nicht.

Viktor Orbán hat kein Wahlprogramm - „Weiter so“, heißt seine Devise

Armin Langer in Budapest.
Armin Langer in Budapest.

© M. Amjahid

Die zusammengeschlossene Opposition aus Sozialisten, Liberalen und konservativen Grünen habe auch bei dieser Wahl schlechte Karten, meint Armin Langer, der immer Jackett und Hemd trägt. Im Jahr 2012 hatte er die „Knoblauch-Front“ gegründet, um mit politisch unkorrekter Satire Opposition gegen Fidesz und Jobbik zu machen. Seine Kommentare sind dementsprechend deftig: „Die Rechten in Ungarn sind auch deswegen so erfolgreich, weil die sozial-liberale Vorgängerregierung alles verkackt hat.“ Weil er eine Alternative zu „rechts und noch rechter“ aufbauen wollte, hat er sich von der Satire abgewendet: „Was in Ungarn passiert, ist mittlerweile zu ernst.“ Und doch war sein Projekt mit der Kandidatur nur auf die Semesterferien begrenzt. Seit einem halben Jahr studiert Armin Langer in Berlin und Potsdam. Es ist die zweite Lösung für Linke in Ungarn: auswandern.

Roma stehen besonders im Fokus der Gewalt

„Ich bin über meine vorzeitige Niederlage enttäuscht, aber auch erleichtert“, sagt Langer. Bei einer Kandidatur hätte er viele persönliche Angriffe ertragen müssen. Antisemitismus sei dabei das kleinere Problem. Er persönlich sei auf der Straße zwar mehrmals als „Jude“ angemacht worden. Die Gewalt gegen Roma im Land empfinde er aber als unerträglich. In den Jahren 2008 und 2009 fuhr ein ungarisches Pendant zur NSU-Terrorzelle mordend durch das Land. Sie erschossen sechs Menschen, alles Roma. Ein großes Medienecho, eine gesellschaftliche Debatte zu der Mordserie gab es nie.

Fidesz? Sei unfähig, sagt er

Und die alles dominierenden, alten Fidesz-Klüngel? Sie seien unfähig, aber sie lieferten auch bescheidene Erfolge, sagt Armin Langer. Einerseits beschlossen sie restriktive Gesetze wie jenes, das für Beleidigung der heiligen Stephanskrone oder anderer Nationalsymbole ein Jahr Haft vorsieht. Andererseits sinken die Staatsschulden, leicht. Die Wohnnebenkosten seien auch reduziert worden, nur minimal, aber symbolisch wichtig. Die Budapester Metrolinie 4 wurde nach vier Jahrzehnten Planung und Bau rechtzeitig zu den Wahlen eröffnet.

Doch in den vier Jahren Fidesz-Regierung wurden kritische Medien unter Druck gesetzt, zensiert, gleichgeschaltet. Der Journalist Tamás Bodoky betreibt die Enthüllungsplattform Atlatszo. Für ihn ist das Internet in Ungarn der letzte Ort einer unabhängigen Berichterstattung. In einem Hinterzimmer eines Klubs im Wahlbezirk Budapest I sitzt er mit seinen Mitarbeitern an einem großen Tisch. Sie haben ihre Laptops aufgeklappt, wieder etwas ausgegraben, eine weitere Korruptionsgeschichte, nichts Neues in Ungarn, einem Land, in dem rund die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als dem gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet 333 Euro im Monat auskommen muss. Jobbik habe leichtes Spiel, Fidesz einige Wählerstimmen wegzunehmen, erklärt Bodoky. Denn Viktor Orbán habe kein Wahlprogramm formuliert. „Weiter so“, heiße seine Devise, und das sei nicht ironisch gemeint. „Orbán ist das Programm“, sagt Bodoky.

Ungarn wird von seiner Vergangenheit verfolgt

Die sozialliberale Opposition sei korrupt und habe Ungarn in ihrer Regierungszeit ab dem Jahr 2002 vom Musterschüler im Ostblock zum Sitzenbleiber am Rande der EU gemacht. Bodoky und sein Team sehen aber in Jobbik die größte Gefahr für die Demokratie. Sie vermuten, dass die Partei aus Russland Gelder erhält. Kein Zweifel bestehe darin, dass Jobbik gute Kontakte zu anderen rechtsextremen Parteien pflege, in Ost- und in Westeuropa.

Aber warum tauschen Millionen Ungarn fundamentale Grundrechte gegen die Aussicht auf Sicherheit und Ordnung unter einer stabilen Ein-Mann-Regierung? Warum sympathisieren so viele mit einer Partei wie Jobbik? Bodoky antwortet mit einem Exkurs in die Geschichte. Durch den Terror unter den Nationalsozialisten in Zusammenarbeit mit ungarischen Faschisten, durch die sowjetische Zerschlagung des Budapester Aufstandes und die Unterdrückung unter Stalin wurde die Angst vor der Fremdherrschaft zur Dauerpanik. Der Fall der Mauer, verlorene Jahre nach der Wende und der ungeordnete Beitritt zur Europäischen Union ließen Brüssel zum Ort allen Übels werden. Ungarn wird von seiner Vergangenheit verfolgt. Bodoky sagt, Fidesz und Orbán seien für die meisten Wähler die Garantie für ein starkes, unabhängiges Land.

Am besten kann man das an einem sonnigen Samstagnachmittag beobachten, am Rande des Wahlbezirks Budapest I. Das von der Regierung organisierte und finanzierte Familienfest auf einem ehemaligen Industriegelände, das zu einer Parklandschaft umgewandelt wurde, ist gut besucht. Kinder lachen über Einradfahrer und Stelzengänger, Trachtenvereine tanzen.

Viktor Orbáns Superminister für Humanressourcen, Balog Zoltán, erzählt unter strahlend blauem Himmel wie wichtig ihm, seiner Regierung und damit auch seiner Partei die traditionelle ungarische Familie sei. Er spricht stellvertretend für seinen Chef. Seine Witze, wie man mehr Kinder produziere, sorgen für viel Gelächter. Die Kinder lachen mit. Wahlkampf auf Fidesz.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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