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Politik: Unser Ort

Von Peter von Becker

Es werden viele sein, die am 27. Januar der Befreiung des Lagers AuschwitzBirkenau vor 60 Jahren gedenken: Politiker, auch der deutsche Bundespräsident, Historiker, Geistliche und einige der letzten Überlebenden. Die Überlebenden aber, die Zeugen des von Nazi-Deutschland industriell betriebenen Massenmords, wird es bald nicht mehr geben. Schon das macht den Donnerstag, den man keinen Feiertag nennen kann, zu einem besonderen Tag.

Wenn irgendwann die Zeitzeugen nicht mehr anwesend sind, dann ist die Vergangenheit ein zweites Mal vergangen. Dennoch spüren auch die Nachgeborenen, für die der Holocaust und der Weltkrieg schon eine Ewigkeit entfernt scheinen, dass der Name Auschwitz wie eine schwarze Sonne nachstrahlt. In zwei Wortsilben überdauert ein Jahrtausendschrecken. Auch wenn der Horror der Deportationen, der Versklavung und des millionenfachen Mordes mitten in Europa kaum mehr vorstellbar und moralisch unfassbar ist, sorgt allein schon Auschwitz dafür, dass die Geschichte eines Menschheitsverbrechens ihren Ort hat.

Es ist, wie wir wissen, nicht der einzige Ort. Doch er erinnert wie kein zweiter daran, dass das Vergangene als Geschichte immer auch Gegenwart ist. Daran ändert selbst die Historisierung des Holocausts nichts. Der „negative Mythos“, wie Imre Kértesz, der überlebende Schriftsteller, Auschwitz nennt, wirkt fort als Warnung, was an Unmenschlichkeit menschenmöglich ist. Und verdeutlicht, dass es keine „Banalität des Bösen“ gibt. Jean Améry, auch er ein Verfolgter des Rassenwahns und im Freitod ein spätes Opfer des Terrors, hatte gegen die zitierte Formel von Hannah Arendt eingewandt: Die „Bösen“ (Arendt meinte Adolf Eichmann) mögen als gewöhnliche Menschen so banal wie wir alle gewesen sein. Doch das von ihnen bewirkte Böse war alles andere als banal. Das Singuläre der rassistischen Diktatur war jenseits jeder machtpolitischen Rationalität und traditionellen Tyrannei die Entscheidung, Leben an sich für „lebensunwert“ und Menschen zu Unter- und Nichtmenschen zu erklären.

Genozide gab es früher schon. In ihrem Allmachtswahn aber wollten Hitler und seine Schergen – zunächst für Juden, Sinti und Roma, Slawen, geistig Behinderte – die Schöpfung rückgängig machen. Deswegen sprach der Nürnberger Gerichtshof 1947 zum ersten Mal von „Verbrechen gegen die Menschheit“. Und deshalb ist Auschwitz: ein universeller Ort.

Viele junge Deutsche, die nichts mit der rohen Idiotie der soeben in Sachsen wieder auffällig gewordenen Rechten zu tun haben, sie wollen ihre Gegenwart nicht durch eine ferne, schreckliche Vergangenheit definiert wissen. Damit haben sie Recht, und man muss gar nicht die Walsersche „Auschwitzkeule“ als Drohung schwingen. Zur Geschichte freilich, die unteilbar und unvergänglich ist, gehören Hegel und Hitler, Weimar und Buchenwald. Indes öffnet sich mit der Historisierung des Holocaust auch der historische Horizont. Bis zur Wende 1989 war im Museum von Auschwitz nicht von den ermordeten Juden die Rede. Sondern nach sozialistischer Manier nur von „Antifaschisten“. So wurden die Opfer noch einmal totgeschwiegen.

Inzwischen aber hat die Geschichte wieder ganz Europa eingeholt. Auschwitz war die Niederlage der europäischen Aufklärung. Und Hitler-Deutschlands antisemitischer Wahn fand willige Helfer in vielen Ländern. Auch deshalb symbolisiert der Ort in Polen eine Mahnung: Menschenrechte gehören zur Weltinnenpolitik.

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