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Politik: Unser verharmlosendes Gedenken (Leitartikel)

Das Beste an der Mauer ist, dass es sie nicht mehr gibt. Das wird man an einem Tag feststellen dürfen, an dem vor achtunddreissig Jahren ihre Errichtung begann, auch wenn ihr Fall schon bald zehn Jahre her ist.

Das Beste an der Mauer ist, dass es sie nicht mehr gibt. Das wird man an einem Tag feststellen dürfen, an dem vor achtunddreissig Jahren ihre Errichtung begann, auch wenn ihr Fall schon bald zehn Jahre her ist. Es hat wenige Bauwerke in der Weltgeschichte gegeben, die ähnlich monströs waren, und weil es über so viele Jahrzehnte auch so unvorstellbar war, dass sie je fallen würde, mag sich ein Gefühl des Triumphes noch immer geltend machen, wenn man sich an ihr Schicksal erinnert. "Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg", möchte man, im Tonfall der Bibel, jubilieren. Aber näher liegt vielleicht die Frage: Mauer, wo ist dein Schrecken?

Denn nun stellt sich das Problem, wie man mit der Erinnerung an dieses Phänomen umgehen kann. Dabei muss man nicht allein an die Verrenkungen denken, die diese Stadt Berlin seit Jahr und Tag veranstaltet, um für die Mauer eine annähernd angemessene Erinnerung zu schaffen. Doch ganz auslassen kann man dieses Kapitel auch nicht. Denn es grenzt eben doch schon an einen Skandal, dass die Stadt, Politik, Bürger und Öffentlichkeit selbdritt, es in bald zehn Jahren seit dem Mauerfall nicht fertig gebracht hat, eine Gedenkstätte zu schaffen, die ihrer Bedeutung angemessen wäre. Die vorhandenen Erinnerungsstätten in allen Ehren, Rainer Hildebrandts rührendes Haus am Checkpoint Charlie, den Platz, wo Peter Fechtner verblutete, oder die Kreuze am Reichstag: Das alles reicht nicht aus, um einen Vorgang im Gedächtnis zu halten, der wie kein anderer die Geschichte und das Gesicht der Stadt geprägt hat. Aber erst in diesem Sommer hat der Senat ein Gesamtkonzept verabschiedet. Erst in diesem November wird die Gedenkstätte an der Bernauer Strasse - so Gott und die Sophiengemeinde es wollen - eine Form bekommen, die des Anlasses würdig ist.

Aber das Hauptdilemma liegt doch im Gedenken selbst. Es ist leicht, dem Mahnmal an der Bernauer Strasse, diesem merkwürdigen Guckkasten, zu bescheinigen, dass er nicht geglückt ist. Es liegt nahe, darauf zu beharren, daß die Grenzanlage dort wieder hergestellt werden müsse, weil sie in ihrer Perfidie jede Ästhetisierung in den Schatten stellt. Aber auch beispielsweise das "Museum zur Geschichte der deutschen Teilung", zu dem die Grenzanlagen in der kleinen Gemeinde Mödlareuth an der sächsisch-bayerischen Grenze ausgebaut worden sind - "Little Berlin" nannten die Amerikaner das ebenfalls geteilte Dörfchen -, macht den Schreckensort zum harmlosen Erlebnispark. Eine Mauer, die nicht mehr droht und trennt, ist eben nicht mehr als ein Betonscheibe von 3.30 Meter Höhe, mit der Röhre darauf, um das Übersteigen zu verhindern.

Aber ist eine Stadt, in der man die Mauer nicht mehr sieht, die sie drei Jahrzehnte lang auseinander schnitt, eine Stadt wie jede andere? Ein Land, in dem die Grenze, die es einst trennte, verschwunden ist, wieder einfach ein Land? Auch wenn wir aus dem Schlagschatten dieser Vergangenheit inzwischen herausgetreten sind, wirken so manifeste Deformationen an den Menschen und an der Gesellschaft fort; nicht zuletzt bezeugt das die Entfremdung zwischen Ost und West - alle die Differenzen, die aufgebrochen sind, nachdem die Einheit erreicht war, ja, vielleicht kann man sagen: in dem Maße, in dem sie sich realisierte. Auch die Teilung, die Mauer und Grenze so dramatisch sichtbar machten, konstituiert eine Epoche in der deutschen Geschichte, die auf absehbare Zeit nicht vergeht - auch wenn sie schon so weit weg zu sein scheint, dass es schwer fällt, sich vorzustellen, dass es sie gegeben hat. Die fortschreitende Entwirklichung dieser Jahrzehnte erfüllt eher den Tatbestand der Verdrängung.

Um so wichtiger ist es, sich der Aufgabe, ja, der Anstrengung der Erinnerung zu stellen. Gedenkstätten, Gedenkakte können dafür nur den Anstoss geben; der Rest, sprich: die Hauptsache geschieht im Kopf, vollzieht sich in dem Willen, eine Geschichte festzuhalten, die das Leben von Generationen geformt hat und ohne die auch ihre Nachfahren anders wären als sie sind. Das Problem ist nicht, daß keine Gedenkstätte die Mauer mit ihrem Schrecken wirklich zurückrufen kann. Es besteht in einer merkwürdigen Gefühllosigkeit gegenüber dem Gedenken selbst.

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