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Politik: Unsere Geschichte

Von Stephan-Andreas Casdorff

Ein Preis unter Preisen? „Das Leben der anderen“, das Stasidrama, erhält den Europäischen Filmpreis. Und selten, wenn wir zurückblicken, trägt ein Preis sowohl in der Bezeichnung als auch der Film in seinem Titel so viel Wahrheit. Deutsche in Europa werden ausgezeichnet, weil sie von sich erzählen, von ihrer gehabten Geschichte nach dem Bruch, dem totalen Zusammenbruch 1945, einer Zäsur, die wohl wenige Völker so je zu überleben hatten. Und für preiswürdig erachtet wird ein Werk – nennen wir es mit Bedacht so, weil es eines im Wortsinn ist –, das eben nicht nur den Europäern in ihrer Unterschiedlichkeit, sondern den Deutschen das Leben im jeweils anderen Teil erzählt. Dazu noch wird es allen gemeinsam vor Augen geführt, den einen zum ersten Mal, den anderen noch einmal, und damit wird es fasslich für beide.

Das ist also unsere Geschichte, keine Fiktion – im Werden begriffen. Auf dem Weg zur Volljährigkeit unserer deutschen Einheit blicken die Deutschen auf sich und zurück. Es ist, als wollten wir uns nun gegenseitig die Geschichten erzählen, die zur eben nur teilweise gehabten Geschichte gehören. Wer allein die Filme Revue passieren lässt, die zurückreichen in die Zeit, als nach dem Zusammenbruch aller Kategorien die Werte wieder errungen werden mussten, der sieht, was sich darin lesen lässt: die Geschichten über die Sturmflut, den Berliner Tunnel, das Wunder von Bern und das von Lengede, dazu die Bücher übers Wirtschaftswunder und den Fall Arbogast, die Breloer-Erzählungen, die im Westen Erinnerungen an Schleyer und Wehner und Brandt und Schmidt wieder aufleben ließen, so wie sie im Osten Neugier weckten; oder die Filme Sonnenallee, der Abschied von Lenin mit einem leisen Goodbye und jetzt über das Leben der anderen, die lauschten und horchten, sich verloren und neue Moralität gewannen. Das sind die Stoffe, aus denen sich Gemeinsamkeiten weben lassen für den Mantel der Geschichte, den Helmut Kohl, der Historiker, zu Recht wehen sah, wenn es um die lange verunsicherte Nation ging.

Denn was ist Geschichte, gelebte Geschichte, wenn nicht auch die, die man einander erzählt, um sie zu tradieren, am imaginierten, wärmenden Lagerfeuer des Aha-Effekts. Das verbindet. Man sinnt, denkt nach, versteht, ordnet ein. Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt. Oder wie Golo Mann meinte: „Immer hat Geschichte zwei Komponenten: das, was geschehen ist, und den, der das Geschehene von seinem Orte in der Zeit sieht und zu verstehen sucht. Nicht nur korrigieren neue sachliche Erkenntnisse die alten; der Erkennende selber wandelt sich.“ Indem wir Filme sehen, Bücher lesen, die Aufschluss geben über das Gehabte wie auch das Nichtgehabte, wandeln sich nicht nur Sichtweisen, sondern die Vergangenheit lebt und wird für alle noch einmal gemeinsam lebbar, in diesem Land und darüber hinaus durch die große Öffnung auf einen Kontinent, wo die Nachbarn weniger voneinander wissen, als wünschenswert wäre, damit die Einheit gelingen kann. Der Preis für von Donnersmarck, für den Film ist damit vielleicht auch politisch gesehen so etwas wie ein Dank der anderen, dass wir den Blick darauf frei machen. Vielleicht.

Sicherer ist, dass die Verständigung der Deutschen Ost und Deutschen West erleichtert wird durch diese Spielform der Zugeneigtheit. Auch wieder politisch gewendet, nicht geschichts-, sondern alltagspolitisch, ist es so: Wer weiß, wo er herkommt, weiß, wo er hingehört – und hinwill. Gegenwärtig lässt sich beobachten, dass gerade das fehlt, dieses sich aus dem Sich-selbst-Kennen entwickelnde Verständnis von dem, wie es in Zukunft in diesem Land sein sollte, was von seinen Menschen erwartet werden darf und was noch nicht. 17 Jahre sind in der Geschichte ein Wimpernschlag. Sie reichen nicht, uns gegenseitig alles erzählt zu haben, erst recht nicht, wenn es mehr als vierzig Jahre, die dazwischenlagen, zu überbrücken gilt. Aber unsere Gesellschaft bietet immer mehr den Ernst wie die nötige Heiterkeit auf, sich vorausschauend zu betrachten. Wie schön, wenn das von anderen gesehen wird.

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