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Politik: „Unsere zweite Religion“

Daniel Cohn-Bendit über die Türkei und die Europäische Union

Herr CohnBendit, so könnte ein Fahrplan für die weitere Annäherung zwischen der Türkei und der EU aussehen: Ein deutliches Signal auf dem EU-Gipfel kommende Woche in Kopenhagen: Die Tür bleibt offen. Dann am Ende des Jahres 2004 eine nochmalige Überprüfung durch die EU, und dann möglicherweise die Aufnahme von Beitrittsgesprächen. Ein realistisches Szenario?

Ich glaube, in Ankara ist man realistischer, als wir glauben. Dort wissen alle, dass die europäische Beitrittspolitik am Ende eine ganz schwierige Diskussion für die Türkei selbst ergeben wird. Am Ende wird es nämlich für Ankara um die Frage gehen: Ist die Türkei bereit, die Übertragung von Souveränität, die mit dem Beitritt zur EU einhergeht, zu akzeptieren? Dies ist ja nur möglich, wenn in der politischen Kultur und in der Verfassung der Türkei das Prinzip der Demokratie gewährleistet wird. Eine demokratisch nicht legitimierte Institution wie die Armee kann das nicht leisten. Der Türkei steht also die schwierige Debatte darüber bevor, ob sie bereit ist, die Politik und die Verfassung von Atatürk radikal zu verändern. Am Ende muss die Armee eine Institution werden, die sich den demokratischen Institutionen unterordnet. Wenn die EU ihre seit 1963 bestehende Verpflichtung, einen Beitritt der Türkei zu diskutieren, beim EU-Gipfel in Kopenhagen noch verstärkt und die Beitrittsfähigkeit Ankaras in zwei Jahren noch einmal überprüft, dann kann sich das nur positiv auf diese Debatte auswirken. Es muss sich nämlich jetzt zeigen, ob eine islamische Partei wie die in Ankara regierende AKP zu einer konservativen säkularisierten Partei mutieren kann.

Welche Rolle spielt die religiös-konservative Gerechtigkeits- und Aufbruchpartei AKP im Annäherungsprozess zwischen der EU und der Türkei?

Wenn die Regierungspartei in Ankara nach Art der CSU zu einer Art Islamisch Sozialer Union würde, läge darin auch für die EU eine große Chance: Wir hätten die Möglichkeit, ein neues Verhältnis mit einem säkularisierten, demokratischen Islam aufzubauen. Und genau das brauchen wir auch: Wir haben jetzt in Europa mehr Muslime, als es Holländer gibt - nämlich zehn Millionen. Der Islam ist die zweite Religion in Europa.

Aber kann es nicht auch sein, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei genau zum Gegenteil führt - also nicht zu einem entspannteren Verhältnis zwischen Moslems und Nicht-Moslems in Europa, sondern zu einer weiteren Gettobildung auch unter den in Deutschland lebenden Türken?

Warten Sie doch mal ab, wie sich die islamische AKP-Partei, die die Mehrheit stellt, in den nächsten zwei, drei Jahren entwickelt. Es ist doch klar: Die Säkularisierung des Islam ist die Bedingung für die Integration. Wir sollten allerdings nicht so tun, als ob nur der Islam solche Probleme mit der Säkularisierung hätte. Wenn man die schwierigen Debatten betrachtet, die es in den europäischen Staaten in der Vergangenheit über das Scheidungsrecht, die Abtreibung oder die Autonomie der sexuellen Ausrichtung gab, dann kommt man zu der generellen Feststellung: Egal, ob es sich um Katholiken, Protestanten oder Juden handelt – es war und ist immer schwierig, zu akzeptieren, dass die säkulare Politik gegenüber der Religion Vorrang hat. Wir haben also auch einen schwierigen Prozess hinter uns. Zur Integration der in Europa lebenden Türken kann man nur Folgendes sagen: Je mehr sich die Türkei säkularisiert, umso säkularisierter werden alle Türken in Europa sein. Wenn die Türkei aber aus Europa ausgeschlossen wird, dann werden die Türken in Europa verstärkt an ihrer zwiespältigen Identität festhalten.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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