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Politik: Urteil mit verheerenden Folgen

Italiens Oberstes Gericht verlangt von Deutschland Entschädigungen gegenüber NS-Opfern – entgegen internationalen Verträgen

Zum zweiten Mal innerhalb von vier Monaten mischen Italiens oberste Richter das Völkerrecht auf. Deutschland soll Entschädigung zahlen für Nazi-Verbrechen von 1944. Das Urteil könnte verheerende Folgen haben – auch für Italien selbst.

Bisher gilt im internationalen Recht der Grundsatz der Staatenimmunität. Demzufolge kann kein Staat von den Bürgern oder den Gerichten eines anderen zur Rechenschaft gezogen werden. Bei Kriegsverbrechen, bei schweren Attacken gegen die Menschlichkeit, soll dieses Prinzip nun nicht mehr gelten. So sehen es die Richter des obersten italienischen Zivilgerichts, des „Kassationshofs“.

Bereits im Juni haben sie es für zulässig erklärt, dass Italiener, die während des Zweiten Weltkriegs zur Zwangsarbeit nach Hitlerdeutschland verschleppt wurden, den deutschen Staat auf Entschädigung verklagen dürfen. Nun, am Dienstagabend, sind die Richter noch einen Schritt weiter gegangen. Sie verurteilten Deutschland direkt dazu, den Hinterbliebenen von SS-Opfern eine Entschädigung von knapp einer Million Euro zu zahlen.

Konkret geht es um eines jener zahlreichen Massaker in Mittelitalien, bei denen deutsche SS-Verbände im Jahr 1944 einige Tausend unschuldige Zivilisten brutal ermordet haben. Ortsnamen wie Marzabotto, Sant’ Anna di Stazzema und nun auch Civitella stehen für diese Kriegsverbrechen. Einige Dutzend SS-Angehörige – die weitaus meisten sind längst gestorben – wurden von italienischen Militärgerichten in den vergangenen vier Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt; Deutschland liefert sie aber nicht aus, und die Prozesse in Deutschland selbst haben gerade erst zögerlich begonnen.

Nun hat das italienische Kassationsgericht in letzter Instanz das Urteil gegen den 88-jährigen früheren Offizier Max Josef Milde bestätigt; er war im toskanischen Civitella an der Ermordung von 203 Alten, Frauen und Kindern beteiligt. Mit dem „lebenslänglich“ gegen Milde bestätigten die Richter auch die Verurteilung Deutschlands zu Schadenersatz gegenüber neun Hinterbliebenen. Die Urteilsbegründung steht noch aus.

Während Opfervertreter das „historische“ Urteil als „sensationellen Fortschritt“ und „große moralische Wiedergutmachung“ feierten, schloss Deutschland umgehend Zahlungen aus. Auf der Grundlage von Individualklagen seien Entschädigungszahlungen wegen der Staatenimmunität nicht möglich, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Jens Plötner, am Mittwoch in Berlin. Ähnlich äußerte sich der offizielle Anwalt Deutschlands, Augusto Dossena. Ansprüche Italiens seien mit dem Friedensvertrag von 1947 und einem Wiedergutmachungsabkommen von 1961 erfüllt worden. Kein anderer Staat in Europa lasse Klagen gegen Deutschland zu, sagte Sossena. Und er warnte davor, „die Büchse der Pandora“ zu öffnen. Internationale Verträge durch die Zulassung von Einzelklagen zu unterlaufen, bedeute, Unsicherheit zu säen. Dann könnten schließlich alle Kriegsverbrechen zwischen allen Staaten Europas geahndet werden – mit unbezahlbaren finanziellen Risiken.

Italien selbst würde dann zur Rechenschaft gezogen für die Verbrechen der Mussolini-Truppen in Albanien, in Griechenland, in Äthiopien, in Libyen. Frankreich müsste für die Gräueltaten in Algerien bezahlen, auf dem Balkan entstünde mit wechselseitigen Forderungen zwischen Serben, Kroaten und all den anderen Völkerschaften eine undurchdringliche Gemengelage, die nicht nur zum Wiederaufflammen der Konflikte, sondern auch zu wirtschaftlichem Ruin – Serbiens beispielsweise – führen könnte. Und was, wenn eines Tages die versammelten Hinterbliebenen polnischer und russischer Opfer gegen Deutschland klagen?

Italien glaubt gegenüber Deutschland zumindest ein kleines Pfand in der Hand zu halten: Auf der Villa Vigoni, einem noblen Begegnungszentrum am Comer See, liegt eine Zwangshypothek, seit griechische Nazi-Opfer – die im Heimatland aus politischen Gründen nicht recht bekamen – die Beschlagnahme in Italien durchgesetzt haben. Weitere ernst zu nehmende Vermögenswerte des deutschen Staates gibt es in Italien offenbar nicht. Botschaften und andere Diplomatische Einrichtungen etwa dürfen nicht beschlagnahmt werden.

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