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Barack Obama wollte nie so regieren, wie er es jetzt tut: gegen den Kongress. Aber mit den Republikanern kann er gar nicht regieren. Es bleibt ihm also kaum eine Wahl.

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US-Präsident Barack Obama: Was kann er noch?

Zweineinhalb Jahre dauert die Amtszeit von US-Präsident Obama noch. Das Land steht vor riesigen Problemen und ist tiefer gespalten denn je. Obama hat viel versprochen. Was kann er überhaupt noch umsetzen? Bisher versuchte er die Opposition einzubinden – jetzt regiert er gegen sie.

Januar 2014. Barack Obama will noch etwas sagen, bevor die Sitzung beginnt. Es ist einer dieser Momente, die sich der Präsident sorgsam zurechtlegt. Seine Minister haben schon am glänzend polierten Konferenztisch im „Cabinet Room“ des Weißen Hauses Platz genommen. Obama sitzt zwischen Innenministerin Sally Jewell zu seiner Rechten und Verteidigungsminister Chuck Hagel zur Linken. Bevor die Kameras und Mikrofone aus dem Saal verwiesen werden, nimmt Obama den entschlossenen Blick an, den er für besondere Botschaften nutzt. Er werde nicht auf eine Gesetzgebung des Kongresses warten, „um sicherzustellen, dass wir die Amerikaner mit der Hilfe versorgen, die sie brauchen“, verspricht der US-Präsident seinem Volk. Wenn die Republikaner in diesem Jahr die Blockade wählten, werde er ohne sie handeln.

Am Mittwoch dieser Woche konnte Obama beobachten, wie das, was er schon Anfang des Jahres befürchtet hatte, eingetroffen ist: Nach dem Rücktritt ihres Mehrheitsführers im Repräsentantenhaus, Eric Cantor, stellen sich die Republikaner für eine Totalopposition auf. Zwischen Kapitol und Weißem Haus ist jetzt, aller Voraussicht nach, gemeinsame Politik ein abgeschlossenes Kapitel.

Eric Cantor verlor die Vorwahl bei den Republikanern

Schockwellen durchliefen das Lager der Republikaner, als Cantor am Dienstagabend seine Vorwahlen zu den Kongressabstimmungen im November verlor. Er musste sich in Virginia seinem Herausforderer von der Tea-Party-Bewegung geschlagen geben, einem strikten Gegner einer Einwanderungsreform und jeglicher Zusammenarbeit mit dem Weißen Haus. Zwar wird seither diskutiert, was genau Cantor zum Sturz gebracht hat. Aber dass nach diesem Fanal noch ein Konservativer die Einwanderungsfrage oder andere gemeinsame Projekte mit den Demokraten anfassen könnte, gilt als wenig wahrscheinlich. „Alle befinden sich im Schockzustand“, gibt der Abgeordnete Lynn Westmoreland aus Georgia zu. Die Niederlage könne die Partei destabilisieren und alle politischen Vorhaben an den Rand drängen, pflichten seine Kollegen bei. „Die Einwanderungsreform ist so gut wie sicher tot“, lautet der Tenor.

Obama regiert jetzt auch ohne den Kongress

Obama hat es nie aufgegeben, sich als Versöhner zu präsentieren. „Yes, we can“ war im Jahr 2008 seine zentrale Botschaft an die Amerikaner. Wir können gemeinsam, war das darin liegende Versprechen. Auf den Kabinettstisch gestützt, nimmt er also die Opposition noch einmal mit in die Verantwortung. Er hoffe, dass der Kongress doch noch die Arbeitslosenversicherung ausweiten und sogar irgendeine Art Einwanderungsreform beschließen werde, sagt er in die Kameras. Dann kommt er zum kritischen Teil seiner Ansprache. „Ich habe einen Stift und ich habe ein Telefon“, kündigt Obama an. „Ich kann diesen Stift benutzen, um Exekutivanordnungen zu unterschreiben und Exekutivmaßnahmen einzuleiten.“

Im Sommer 2014 sind die Vereinigten Staaten eine Großbaustelle. Die Schere zwischen Arm und Reich ist so weit offen wie seit Jahrzehnten nicht. Einen Staatshaushalt, der diesen Namen verdient, gibt es längst nicht mehr. Die USA kämpfen mit ihrer schlechten Infrastruktur, für die Kriegsveteranen, im Gesundheitswesen, in der Bildung. Im Parlament liegt außerdem wie festgefroren ein umfassendes Einwanderungsgesetz für die Millionen Illegalen, vielleicht die wichtigste Aufgabe der US-Politik in den kommenden Jahren. Seit Mittwoch ist ein Erfolg dieser Reform unwahrscheinlicher denn je. Denn Gesetzgebung bei zentralen Fragen wird in diesem Land nicht mehr stattfinden, nicht vor den Midterm-Wahlen im November – und vielleicht gar nicht mehr bis zum Ende von Obamas Amtszeit. Die nächsten zweieinhalb Jahre wird die Welt einen US-Präsidenten erleben, der allein anhand seiner Exekutivrechte regiert.

Arbeitsrecht, Gesundheitsvorschriften, Umwelt-Grenzwerte

Statt Visionen zu entwickeln, durchforsten im Weißen Haus jetzt Heere von Mitarbeitern Akten und Dateien. Obamas Berater haben die Spielräume in geltenden Gesetzen untersucht, und sie haben bereits aufgelistet, so heißt es zumindest, welche politischen Erfolge sich mit „Stift und Telefon“ erzielen lassen. Obama kann ins Arbeitsrecht eingreifen, Gesundheitsvorschriften erlassen, Umwelt-Grenzwerte anordnen oder Schwerpunkte in der Bildungspolitik setzen, um die Chancenungleichheit zwischen den Hautfarben zu bekämpfen. Dem US-Präsidenten obliegt aber auch das Sanktionsregime: Er ist „Commander in Chief“ und entscheidet gemeinsam mit Verteidigungsminister Chuck Hagel über militärische Prioritäten, er kann systematische Deportationen stoppen und Verhandlungen mit dem Iran führen. Bis ins nächste Jahr reicht der Zeitplan für Exekutivanordnungen aus dem Westflügel des Weißen Hauses angeblich schon.

Obama hat im Lauf des Jahres bereits demonstriert, wie groß die Macht des Weißen Hauses sein kann. Im Rückgriff auf ein altes Gesetz wies er seine Vertraute, Umweltministerin Gina McCarthy, an, die Kohlendioxid-Grenzwerte für sämtliche Kraftwerke zu senken. Um 30 Prozent im Vergleich zum Jahr 2005 müssen die rund 600 Kraftwerke der USA ihre Emissionen bis zum Jahr 2030 reduzieren. Die „New York Times“ kommentiert die Maßnahme als einen „der bedeutendsten Schritte, die je ein Präsident in der Klimapolitik unternommen hat“.

Auch in Sachen Bergdahl hat Obama den Kongress nicht gefragt

Ohne den Kongress zu konsultieren, beschloss der Präsident auch den Austausch des Soldaten Bowe Bergdahl gegen fünf Taliban-Häftlinge, die in Guantanamo einsaßen. Beim Waffenrecht hat Obama die Exekutivbefugnisse genutzt, um zumindest die Überprüfung von Waffenkäufern zu verbessern. Der frühere republikanische Kongressabgeordnete Allen West aus Florida hat Obama eine „Hintertürpolitik“ vorgeworfen. Bei Fox-News spricht der frühere Richter Andrew Napolitano von einer „Tyrannei“.

In seiner ersten Amtszeit hatte Obama nur 147 Exekutivanordnungen unterschrieben, die bei weitem niedrigste Zahl im Vergleich zu seinen Vorgängern. Absehbar wird der amtierende Präsident seine Quote erheblich steigern. Bis im November das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt werden, geht angesichts der Lage der Republikaner ohnehin nichts mehr. Und nach den Wahlen dürfte es möglicherweise nicht besser werden. Noch halten die Demokraten im Senat eine komfortable Mehrheit, das Haus indes ist fest in den Händen der Grand Old Party (GOP). Doch während den Republikanern im Haus kaum ein Machtverlust droht, müssen die Demokraten um das Gleichgewicht der Kräfte fürchten. Nach derzeitigem Stand könnte auch der Senat an die GOP gehen. Die Wahlen im November könnten die legislative Agenda des Präsidenten deshalb für den Rest seiner Amtszeit durchkreuzen.

Obama hat sich seit Monaten auf die Situation vorbereitet. „Illusionen über den Kongress hat er sich nicht gemacht“, erzählt ein Beobachter. Dass sich die Republikaner, die eine andere Form des Regierens verhinderten, über seinen Exekutivstil aufregen, kontert er süffisant. Bei einem Abendessen für Korrespondenten im Weißen Haus sagte Obama: „Meine Kritiker nennen das jetzt die ,imperiale Präsidentschaft‘.“ In Wahrheit tauche er doch einfach nur jeden Tag in seinem Büro auf und erledige seinen Job.

Mehr als Versprechungen in der Außenpolitik?

Direkte Gespräche mit dem Iran will der amerikanische Präsident über das umstrittene Atomprogramm des Landes führen. Die Krise im Irak bringt die beiden Länder, die seit Jahrzehnten keine Beziehungen mehr pflegen, näher zusammen.
Direkte Gespräche mit dem Iran will der amerikanische Präsident über das umstrittene Atomprogramm des Landes führen. Die Krise im Irak bringt die beiden Länder, die seit Jahrzehnten keine Beziehungen mehr pflegen, näher zusammen.

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Am 20. Juli läuft die Frist für den Iran ab, aber auch für Barack Obama. Die USA und der Schiitenstaat verhandeln, abweichend von früherer Tradition, vor den Augen der Weltöffentlichkeit direkt miteinander über das iranische Atomprogramm. In der Verhandlergruppe P5 + 1 ringt Washington zudem parallel mit Teheran um das Programm, um die Uran-Anreicherungskapazitäten des Landes. Während es dem Iran darum geht, die Sanktionslast abzuschütteln, die die Wirtschaft des Landes abwürgt, verhandeln die amerikanischen Emissäre auch um Obamas außenpolitische Glaubwürdigkeit.

Mitten in der Syrienkrise, in der Obama als unentschlossen und planlos wahrgenommen wurde, gelang ein erster Durchbruch in den Verhandlungen um das iranische Atomprogramm. Doch was Obama und US-Außenminister John Kerry als großen Erfolg feierten, ist im eigenen Land höchst umstritten. Mit großer Skepsis blicken Demokraten wie Republikaner auf die Gespräche. Erzürnt unternahm zudem der israelische Premier Benjamin Netanjahu den Versuch, direkt auf Kongress-Mitglieder Einfluss zu nehmen. Sollten bei den Verhandlungen bis zum 20. Juli überhaupt Ergebnisse erzielt werden, muss Obama damit vor einem misstrauischen Kongress, der die Sanktionen beschlossen hat und weitere vorbereitet, bestehen.

Im Kampf gegen den globalen Terror hat Obama der Welt in seiner Westpoint-Rede eine neue, dezentrale Terrorismusbekämpfung vorgestellt und ein Fünf-Milliarden-Dollar-Programm versprochen. Im Rahmen einer „Versicherungs-Initiative“ machte Obama dann während seines Europabesuchs auch Milliardenzusagen für den Schutz der Staaten am Ostrand der Nato. Ohne den Kongress aber kann Obama nur außenpolitische Ankündigungen machen und Wege bereiten. Ohne Finanzhoheit ist er bei der Umsetzung auf die Zustimmung des konservativen Lagers angewiesen. Dass die Republikaner, gefangen in ihrer selbst auferlegten Politikverweigerung, dem Präsidenten außenpolitische Erfolge ermöglichen werden, darf bezweifelt werden. Obama wird in wichtigen Fragen wie den Iran-Verhandlungen Partner jenseits der Parteigrenzen suchen.

Angesicht der weltpolitischen Entwicklung mit dem Syrienkrieg und der Ukrainekrise ist an weitere zukunftsweisende Projekte wie die in Berlin angekündigte Abrüstungsinitiative aber nicht mehr zu denken.

Das Kapitel Afghanistan schließen

Das Kapitel Afghanistan möchte der amerikanische Präsident gerne schließen. Das Foto zeigt die Särge von mehreren US-Soldaten, die in Afghanistan vor wenigen Tagen von ihren eigenen Kameraden versehentlich erschossen worden waren.
Das Kapitel Afghanistan möchte der amerikanische Präsident gerne schließen. Das Foto zeigt die Särge von mehreren US-Soldaten, die in Afghanistan vor wenigen Tagen von ihren eigenen Kameraden versehentlich erschossen worden waren.

© AFP

„SF“ kritzelte Bowe Bergdahl aus Idaho am Samstag vor zwei Wochen kurz nach halb acht Uhr abends auf ein Blatt Papier, als er im Hubschrauber saß. „Special Forces?“ wollte er wissen. Als sie ihm geantwortet hätten, so berichten die anwesenden Soldaten, sei Bergdahl zusammengebrochen: „Ja, wir haben lange nach dir gesucht.“

Nach fünf Jahren Gefangenschaft übergaben die Taliban Sergeant Bowe Bergdahl am 31. Mai einer Spezialtruppe der US-Armee.

Der Preis für den letzten gefangenen Amerikaner aus dem Afghanistankrieg war allerdings hoch: Im Gegenzug wurde fünf hochrangige Taliban nach Katar geflogen – und zwar direkt aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo.

Das ist der Preis, den Barack Obama bereit ist zu zahlen, um den letzten noch geführten Krieg der Vereinigten Staaten zu beenden. Er werde nicht länger versuchen, „Afghanistan zu einem besseren Ort zu machen“, sagte Obama, schon kurz nachdem er ins Weiße Haus eingezogen war. Und seine Berater verstanden. In stundenlangen Besprechungen hatten sie versucht, ihn davon zu überzeugen, deutlich mehr Truppen in Afghanistan zu stationieren. Aber Obamas Linie wurde schnell deutlich: Für kurze Zeit wurde die Präsenz dort noch einmal erhöht, um dann zügig den radikalen Abzug einzuleiten. Jetzt ist die Rückkehr der noch verbliebenen 10 000 Soldaten geplant. Und bevor alle Kräfte aus Afghanistan abgezogen sind, musste der letzte US-Soldat aus den Händen der Taliban befreit werden. Um den Krieg hinter sich zu lassen, will Obama aber noch ein weiteres Wahlversprechen erfüllen: Er will Guantanamo schließen.

Konservative befürchten einen Präzedenzfall. „Der Bergdahl-Deal könnte der erste Schritt sein, um Gitmo (Guantanamo) zu schließen“, meint die Onlinezeitung „The Daily Beast“. Abgeordnete werteten dies als weiteren Versuch, den Kongress aus der Guantanamo-Frage herauszuhalten. Auf der anderen Seite hoffen die Befürworter einer Schließung, dass der Gefangenenaustausch Vorbild für künftiges Handeln sein möge. „Es ist das erste Mal, dass sie über die Vorbehalte der Gewaltenteilung hinweggegangen sind“, sagt Ken Gude vom liberalen Center for American Progress, „hoffentlich kommt da noch mehr.“

Der Kongress hat die Freilassung von Guantanamo-Gefangenen geregelt beziehungsweise mit hohen Hürden nahezu verstellt. Demnach muss der Verteidigungsminister darlegen, dass eine Freilassung im Interesse der nationalen Sicherheit ist, dass künftigen Gefahren, die von den Freigelassenen ausgehen könnten, vorgebeugt wurde, und außerdem muss der Kongress 30 Tage vorab darüber informiert werden.

Auch eine Verlegung der Häftlinge in andere US-Gefängnisse oder eine Freilassung auf amerikanischem Gebiet hat die Regierung in sechs Jahren nicht erreicht. Die einzelnen Bundesstaaten weigern sich, Guantanamo-Häftlinge in staatlichen Gefängnissen aufzunehmen. Obama konnte sein Versprechen, das berüchtigte Lager auf der kubanischen Insel zu schließen, nicht einlösen. Mit dem Bergdahl-Deal sendet Obama eine Botschaft an den Kongress: Er ist bereit, sein Exekutivbefugnisse auch in der Guantanamo-Frage einzusetzen.

Nach der letzten Freilassung sind noch 147 Gefangene in Guantanamo. Von einer Schließung des Lagers ist der US-Präsident damit immer noch weit entfernt.

Einwanderer hoffen weiter

Für elf Millionen Menschen war der 27. Juni vergangenen Jahres ein hoffnungsvoller Tag. Der demokratisch dominierte US-Senat verabschiedete mit 68 zu 32 Stimmen eine Einwanderungsreform. Sogar 14 Republikaner hatten der Gesetzesvorlage ihre Stimme gegeben. Auf der Tribüne des Senats trugen Besucher T-Shirts mit der Aufschrift „elf Millionen Träumer“. Die Menschen aber müssen sich weiterhin an ihre Träume halten, Realität geworden ist das Gesetz noch immer nicht. Im republikanisch dominierten Repräsentantenhaus, das ebenfalls zustimmen muss, wurde die Vorlage noch nicht einmal im Plenum behandelt. Und angesichts der Krise der Konservativen gilt das Gesetz jetzt zumindest vorerst als aussichtslos.

Im Kern enthält die Vorlage zwei Elemente: Nach zehn Jahren können illegal Eingewanderte einen legalen Aufenthaltsstatus bekommen, weitere drei Jahre später die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im Gegenzug für die Einbürgerung der schon ins Land gekommenen Menschen, zumeist aus Lateinamerika, werden die Grenzen zu Mexiko noch schärfer überwacht. Noch mehr illegale Einwanderer soll das Land nicht aufnehmen. Für Milliarden Dollar sollen neue Grenzzäune errichtet und die Zahl der Grenzschützer massiv erhöht werden. Damit ein solches Gesetz mehrheitsfähig ist, hatte ein Team aus Demokraten und Republikanern gemeinsam einen Kompromiss ausgearbeitet. Schon im Februar hatte der Sprecher des Hauses, John Boehner, allerdings angekündigt, der Kongress werde an die Frage nicht rühren, solange man Barack Obama dabei nicht trauen könne. Er habe im vergangenen Jahr versucht, das Repräsentantenhaus in Bewegung zu setzen. „Aber jedes mal, wenn der Präsident geltendes Gesetz missachtet, wie die 38 Mal bei der Gesundheitsreform“, sagte Boehner, „blicken unsere Mitglieder auf und sagen ,Wartet mal‘.“ Die Republikaner befürchten, Obama werde ein mögliches Gesetz im Nachhinein mit Exekutivanordnungen verändern.

Obama steht es zu, in das geltende Gesetz per Anordnung einzugreifen. So hat er die Macht, Abschiebungen in Millionendimension zu verhindern. Mitten im Wahlkampf 2012 verfügte Obama beispielsweise einen auf zwei Jahre befristeten Abschiebestopp für junge illegale Einwanderer, die bei ihrer Ankunft noch keine 16 Jahre alt waren und jetzt noch nicht 30 sind. 800 000 junge Latinos profitierten von der Anordnung – und Obama wurde wiedergewählt. In diesem Jahr hatte der Präsident erklärt, er werde das Mittel nicht nutzen, um die Abschiebungen generell zu stoppen. Zwar hat er im März seinen Heimatschutzminister angewiesen, die Abschiebepraxis zu überprüfen. Mit Blick auf den Kongress wolle er aber nichts tun, um „das bestehende Gesetz zu verändern“. Obama geht davon aus, dass jeder einseitige Schritt des Weißen Hauses die Aussicht auf eine Verabschiedung der Einwanderungsreform schmälert.

Obamas Zurückhaltung geht dabei sehr weit. Als das Verteidigungsministerium Ende Mai ein Programm vorstellen wollte, das es jungen Illegalen besser ermöglicht, sich beim Militär einzuschreiben, ordnete das Weiße Haus an, das Programm zurückzustellen. „Um die kleine Chance“, doch noch die Zustimmung im Repräsentantenhaus zu bekommen, nicht zu zerstören, wie Obama wissen ließ. Ob die neue Situation seine Bereitschaft, einseitig zu handeln, erhöht, wird sich zeigen.

Mindestens zehn Dollar für alle

Der Bürgermeister von Seattle, Ed Murray, hat vor wenigen Tagen die Erhöhung des Mindestlohns in der Westküstenmetropole auf 15 Dollar die Stunde dekretiert, nachdem der Gemeinderat dem zugestimmt hatte. Es ist der höchste Mindestlohn der Welt. Ob das ganze Land nachzieht? Obama hat es in der Hand.
Der Bürgermeister von Seattle, Ed Murray, hat vor wenigen Tagen die Erhöhung des Mindestlohns in der Westküstenmetropole auf 15 Dollar die Stunde dekretiert, nachdem der Gemeinderat dem zugestimmt hatte. Es ist der höchste Mindestlohn der Welt. Ob das ganze Land nachzieht? Obama hat es in der Hand.

© AFP

Anfang Juni hat der Stadtrat von Seattle im Bundesstaat Washington einen Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde beschlossen. Monatelang hatten Wirtschaftsvertreter und Gewerkschaftsführer in einem Sondergremium miteinander gerungen. Aber unter der Leitung von Bürgermeister Ed Murray, der seinen Wahlkampf mit der Forderung eines höheren Mindestlohns bestritten hatte, einigten sich die Parteien schließlich, und im Stadtrat stimmten alle neun Mitglieder für die Anhebung. Der Mindestlohn in Seattle ist der höchste der Welt. Mit Spannung blicken andere US-amerikanische Städte und Bundesstaaten in den pazifischen Nordwesten; dorthin, wo Amazon seine Zentrale hat, wo Microsoft im nahen Redmont residiert, wo Starbucks, Nordstrom und eine Sparte von Boeing angesiedelt sind – sie alle stützen den Boom von Seattle. Seattle gilt als ein Experiment. Auch für Barack Obama.

In seiner Rede an die Nation im Januar hatte Obama versprochen, das Jahr 2014 zum „Year of Action“ (Jahr des Handelns) zu machen. In der liberalen Kampfansage an die konservative Hälfte des Landes stellte er die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt und kündigte an, den Mindestlohn für staatliche Angestellte zu erhöhen. Im Februar dann griff er im „East Room“ des Weißen Hauses zum Stift, um eine Verordnung zu unterzeichnen, die den Mindestlohn von zehn Dollar und zehn Cent zumindest für einen Teil der staatlichen Angestellten garantiert. Zugleich forderte er den Kongress auf, das Gleiche für alle Amerikaner zu tun. Solange die Republikaner im Kongress ihm jedoch nicht folgten, sollten die Städte und Bundesstaaten den Alleingang wagen, forderte Obama.

Seit Monaten reist der Präsident nun durch die Vereinigten Staaten und wirbt dafür, den kargen staatlichen Mindestlohn von sieben Dollar und 25 Cent auf zehn Dollar und zehn Cent anzuheben. In dem ideologisch so tief gespaltenen Land ist die Bezahlung der Menschen in den unteren Lohngruppen inzwischen zur Glaubensfrage geworden. Und während beispielsweise der konservative Thinktank Heritage-Foundation eindringlich warnt, ein solcher Mindestlohn werde die Wirtschaft schwer beschädigen, wirbt der US-Präsident für die konsumankurbelnde Wirkung einer besseren Bezahlung. „Millionen von Menschen“ würde der höhere Mindestlohn helfen, sagte Obama, Millionen von Menschen unterstützten ihn in seiner Forderung.

„Eine Mehrheit der Amerikaner – nicht nur Demokraten, nicht nur Unabhängige, auch Republikaner – unterstützt die Anhebung des Mindestlohns“, warnte Obama seine Kontrahenten im Kongress. „Es ist richtig, was wir tun. Das ist etwas, was der Kongress dieses Jahr berücksichtigen sollte.“ Die Demokraten beabsichtigen, die Bezahlung der wirtschaftlich Schwächsten zum Wahlkampfthema zu machen. Und Obama forderte die Menschen auf, auf die Senatoren und Abgeordneten in ihrem Wahlkreis Druck auszuüben. Mehr kann er nicht tun. Nur der Kongress kann einen allgemeinen Mindestlohn beschließen.

Acht Bundesstaaten und der District of Columbia haben in diesem Jahr bereits den Mindestlohn angehoben. Seattle verbucht Obama nun als seinen nächsten Erfolg. Andere große Städte wie San Diego, Chicago und

San Francisco könnten folgen. Im Süden der USA jedoch, wo die Wirtschaft noch immer darniederliegt, ist eine Erhöhung nicht in Sicht.

Machtlos gegen die Waffen-Lobby

Am Jahrestag des Schulmassakers in der Sandy-Hook-Grundschule hängt eine Fahne in der Hauptstadt Washington auf Halbmast. Obamas Versuche, die schreckliche Liebe der Amerikaner zu ihren Waffen zu brechen, ist bisher an der Waffenlobby gescheitert.
Am Jahrestag des Schulmassakers in der Sandy-Hook-Grundschule hängt eine Fahne in der Hauptstadt Washington auf Halbmast. Obamas Versuche, die schreckliche Liebe der Amerikaner zu ihren Waffen zu brechen, ist bisher an der Waffenlobby gescheitert.

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Der Auftritt war schlicht, und er ging zu Herzen. Kongressmitglieder sollten ihn bitte nicht mehr anrufen und ihm ihr Beileid aussprechen, sagte Richard Martinez, Vater des 20 Jahre alten Christopher Michaels-Martinez, der am 23. Mai bei einem Amoklauf in Santa Barbara in Kalifornien erschossen wurde. „Euer Mitgefühl ist mir egal“, sprach Martinez in die Mikrofone, als er am Tag nach dem Tod seines Sohnes vor die Medien trat. Tränen rannen über sein Gesicht. „Geht an die Arbeit und macht etwas. Ich sage dem Präsidenten dasselbe, wenn er mich anruft. Anrufe von Politikern zu bekommen, beeindruckt mich nicht.“

Martinez rief jeden im Land dazu auf, allen Politikern Postkarten mit drei Worten zu schicken: „Not one more“ (Kein Einziger mehr). Kein Kind, kein Jugendlicher, kein Erwachsener solle mehr Opfer derjenigen werden, die sich gegen strengere Waffengesetze einsetzten. „Ich fordere die Menschen auf, sich zu erheben“, fügte Martinez an. „Genug ist genug.“

Martinez ist nicht der erste trauernde Vater, der an sein Land appelliert, Massakern und Schießereien mit strengeren Gesetzen und Kontrollen entgegenzutreten. Aber die Appelle sind verpufft. Auch zu Waffengesetzen ist die öffentliche Meinung ideologisch aufgeladen und tief gespalten. Es ist, als ob das Recht, eine Waffen zu tragen, nicht nur in der Verfassung stünde, sondern im Lauf der Geschichte auch in die amerikanischen Gene eingezogen wäre. Die Waffenlobby ist stark, und im Kongress ist die Zahl der Unterstützer des unbeschränkten Rechts, eine Waffen zu tragen, hoch.

Nach dem Amoklauf eines Jugendliche in der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown im Bundesstaat Connecticut im Dezember 2012 versprach US-Präsident Barack Obama, die Waffengesetze zu verschärfen. Wenig später legte Vize-Präsident Joe Biden ein umfassendes Programm vor. Jeder Waffenkäufer sollte künftig auf einen kriminellen Hintergrund überprüft und Schnellfeuerwaffen verboten werden, genauso wie größere Magazine. Dazu schlug Biden einen Fonds zur Finanzierung von mehr Sicherheitskräften und ein Gesetz gegen den Waffenschmuggel vor.

Etwa 500 Millionen Dollar hätte das Ganze den Staat gekostet. Hätte. Denn ohne den Kongress konnten die Vorschläge nicht Gesetz werden. Also zückte Biden ein zweites Programm. Ohne die Zustimmung des Kongresses konnte Obama 23 Maßnahmen anordnen, die allerdings deutlich hinter den gesetzlichen Vorschlägen zurückblieben. So sollten die bestehenden Hintergrundüberprüfungen verbessert, die Verwahrung von Waffen strenger geregelt und Notfallpläne in Schulen entwickelt werden.

Vize-Präsident Biden hatte damals die Spielräume des Präsidenten in der Waffenfrage gründlich unter die Lupe genommen – und vermutlich auch ausgeschöpft.

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