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Politik: US-Wahl: "Absolutes Endspiel"

Als er das vierte Mal "schwangere Löcher" sagt, muss der Anwalt Al Gores selber lachen. David Boies heißt er, ist ein hagerer Herr mit schütterem Haar, der blechern lacht, wenn er denn lacht.

Als er das vierte Mal "schwangere Löcher" sagt, muss der Anwalt Al Gores selber lachen. David Boies heißt er, ist ein hagerer Herr mit schütterem Haar, der blechern lacht, wenn er denn lacht. In der Nacht zu Mittwoch hatte er Anlass zur Freude. David Boies, der Mann, der vor einem Jahr den Prozess des US-Justizministeriums gegen Microsoft gewann, hat erneut gesiegt. Diesmal ist sein Kunde ein anderes Kabinettsmitglied der Bundesregierung der Vereinigten Staaten: Al Gore. Der hat vor Floridas Oberstem Gerichtshof gesiegt. Und so müssen von diesem Donnerstag an - trotz des Thanksgiving-Feiertags - Stimm-Stanzkarten gegen das Licht gehalten und entziffert werden.

Wegen der "schwangeren Löcher". Das sind Ausbeulungen auf jenen Stanzkarten, die in den meisten US-Kreisen zur Präsidentschaftswahl benutzt wurden. Denn nicht auf allen Karten ist das kleine Quadrat neben dem Kandidatennamen, "chad" genannt, komplett ausgestanzt. Weil das so ist, tobt seit gut zwei Wochen der Streit darum, wer denn nun das Weiße Haus gewonnen hat. David Boies sagte nach der Entscheidung des Obersten Gerichts: "Wir hoffen natürlich, dass alle Kreise in Florida ausgebeulte Stanzlöcher als gültige Stimmen akzeptieren, so wie das in Illinois gemacht wird und wie es der Oberste Gerichtshof explizit erwähnt hat." Jetzt beginne im Streit um die Wahl das "absolute Endspiel".

Das Oberste Gericht hatte am späten Dienstagabend ein Verfahren vorgeschrieben, das sicherstellen soll, dass inklusive der Bestätigung des Ergebnisses und seiner dann noch immer möglichen Anfechtung bis zum 12. Dezember tatsächlich ein Endergebnis vorliegt. Das "überragende Interesse" sei das Wahlrecht und der darin enthaltene Anspruch auf die Zählung aller Stimmen, so das Gericht. Hand-Nachzählungen seien legal und müssten bis Sonntag 17 Uhr abgeschlossen sein. Praktisch heißt dies, da das kommende Wochenende im Zeichen des Feiertags steht, dass die Kreise bis kommenden Montagmorgen ihre Ergebnisse revidieren können. 500 Wahlbezirke in fünf Tagen - so will Gore die 930 Stimmen Vorsprung Bushs wettmachen.

Die formelle Frage, über die entschieden wurde, ist einfach: Hat Katherine Harris, die republikanische Innenministerin Floridas, ihren Ermessensspielraum korrekt ausgelegt, als sie verspätet eingegangene Handzählungs-Ergebnisse nicht in das Gesamtergebnis hineinrechnete? Das Verdikt fiel saftig aus: Die sämtlich von demokratischen Gouverneuren nominierten Richter sprachen von willkürlicher und "massenhafter Entmündigung unschuldiger Wähler". Was Harris vollziehe, sei "unverantwortlich, unnötig und ein Verstoß gegen die etablierte Rechtsprechung". Der Wille des Volkes habe Vorrang vor der Technik der Stimmauszählung, die in Landesgesetzen vorgesehen sei, entschieden die Richter einstimmig.

Den deutlichsten Triumph Gores hatten sie in ihrer Fußnote Nummer 56 versteckt. Keine Partei habe während der zweieinhalbstündigen Verhandlung am Montag den Köder angenommen, um Hand-Nachzählungen in weiteren Landkreisen zu bitten, schreiben die Richter. Im Klartext heißt die Formulierung nichts anderes, als dass ausschließlich in den noch ausstehenden drei, stark demokratisch geprägten Landkreisen im Südosten Floridas von Hand nachgezählt wird. Also dort, wo Gore proportional zum für ihn günstigen Ergebnis mit Zugewinnen rechnen kann, weil eine Hand-Zählung nichts anderes bedeutet, als dass der Gewinner mehr zusätzliche, von Maschinen unlesbare Stimmen erhält als der Verlierer. Gore hat bei seinem dreiminütigen Auftritt nach der Entscheidung wohlweislich nicht das Angebot an seinen Konkurrenten George W. Bush wiederholt, von Hand in allen 67 Landkreisen Floridas nachzuzählen, also auch Bush zusätzliche Stimmen zuzuschanzen. Im Sinne der "überragenden Bedeutung der Einheit des Landes" schlug er dann noch einmal vor, dass er sich persönlich mit Bush treffe. "Weil das Land wichtiger ist als ein Sieg."

Und dann schloss der Vizepräsident erstmals ein Szenario aus, vor dem das ganze Land zittert: Er werde nicht die Stimmen von Bush-Wahlmännern ("Elektoren") annehmen, die mit dem Argument ins Schwanken gebracht wurden, dass er bei den Direktstimmen vorne liege, betonte Gore. "Einige meiner eigenen Unterstützer haben den Umstand betont, dass wir die Direktstimmen gewonnen haben, aber unsere Verfassung verlangt den Sieg im Wahlmännergremium." Es folgte noch eine Premiere: "Lasst uns den Übergang beginnen", verkündete Gore in zuversichtlicher Pose. Seine Helfershelfer hatten Bush bisher scharf angegriffen, er gebärde sich wie ein gewählter Präsident, weil er bereits Spekulationen über Kabinettsposten nähre.

Gore hat noch einen Hilfs-Trumpf im Ärmel. Seine Anwälte überlegen weiter, ob sie Tausende der Bush-freundlichen Briefwahlstimmen aus Übersee anfechten, weil ein Postamt in Kuweit oder Ost-Timor keinen lesbaren Stempel auf den Umschlag hämmerte. Auf Eis liegt derweil die Klage gegen das verwirrende Design der Stimmzettel im Kreis Palm Beach.

Gores Rivale George W. Bush schwieg. Den Verriss des Spruchs des Obersten Gerichtshofes überließ er Ex-Außenminister James Baker. "Das Gericht hat das Gesetz umgeschrieben, die Verantwortlichkeit des Landtags an sich gezogen, die Gewaltenteilung missachtet, die Regeln mitten im Spiel geändert und ein neues System zur Stimmauszählung erfunden", meinte Baker, der Kabinettsmitglied des Vaters von Bush war. "Es braucht kein Loch, kein Licht, und selbst wenn gar nichts da ist, wenn der Wähler nicht gewählt hat, kann noch einer behaupten, er erkenne einen Wählerwillen." Unfair, ungerecht und unakzeptabel sei das Urteil. "Die Richter haben nun wirklich mehr getan, als das Recht zu interpretieren!"

Es handele sich um eine "Usurpation der gesetzgeberischen Funktionen". Man sollte nun nicht erstaunt sein, wenn Floridas Landtag seine Kompetenzen verteidige und aktiv werde, um seiner ursprünglichen Gesetzgebung Wirkung zu verschaffen. Mit "ursprünglicher Gesetzgebung" bezieht sich Baker auf die Sieben-Tage-Frist nach der Wahl, bis zu der alle Kreise Ergebnisse melden müssen. So steht es im Landesgesetz. So hatte es Harris gehandhabt, was in erster Instanz als richtige Auslegung ihres Ermessensspielraums bewertet worden war.

Die Oberrichter mussten am Dienstagmorgen den neuen Landtag Floridas konstituieren. Harris wurde mit stehenden Ovationen empfangen. Da wusste sie noch nichts von der Schelte, die ihr kurz darauf zuteil werden sollte. Die republikanische Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern des Landtags war sofort in offenem Aufruhr gegen den Obersten Gerichtshof. Baker brauchte dies nicht in die Legislative hinein zu interpretieren. Der Landtag hat auch ohne Schützenhilfe der Bush-Vertreter aufgrund eines mehr als hundert Jahre alten Gesetzes das Recht, im Streitfall eigenmächtig Wahlmänner zu entsenden, um Bill Clintons Nachfolger zu bestimmen.

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