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USA und Russland im Streit um MH17: Wie gegensätzlich die Fakten gedeutet werden

Wer hat das malaysische Passagierflugzeug über der Ostukraine abgeschossen? Die USA sind sicher: prorussische Rebellen. Und Russland erklärt: die Ukraine. Die Fakten werden dabei ganz unterschiedlich gedeutet.

Die Position der USA:

„Wir sprechen nicht das abschließene Urteil“, betont US-Außenminister John F. Kerry, als er am Sonntag die Runde durch alle maßgeblichen Sonntags-Talkshows macht. Dieses Urteil bleibe dem Team internationaler Ermittler vorbehalten, das den Absturz des Flugs MH 17 über der Ost-Ukraine „umfassend aufklären“ soll. „Die USA stellen die Anklageschrift zusammen“, beschreibt die „Washington Post“ seine Rolle. Kerry flicht in die Interviews ein, dass er früher mal als Staatsanwalt gearbeitet habe. Im vorliegenden Fall sehe er „erdrückende Indizien“, dass das Passagierflugzeug durch prorussische Separatisten abgeschossen wurde, dass Russland das Raketensystem geliefert und die Separatisten in der Bedienung ausgebildet habe und dass die Separatisten und Russland seit dem Abschuss alles tun, um Spuren zu verwischen und die gründliche internationale Untersuchung, die alle Welt fordert, Präsident Putin eingeschlossen, zu erschweren.

Kerry sagt, die USA hätten den Start einer „SA 11“-Abfangrakete beobachtet, kurz bevor MH 17 am Donnerstag vom Himmel verschwand. Es gebe Bilder und Daten, aus denen man Flugbahn und Abschussort bestimmen könne. Diese Gegend werde eindeutig von den Separatisten kontrolliert. Die USA könnten zudem „mit Bildern“ belegen, dass die Separatisten ein solches Raketensystem in den Stunden um den Abschuss durch diese Gegend transportiert haben. Und es gebe „ein Video“, wie das Raketensystem nach dem Abschuss nach Russland zurückgebracht wurde, wobei allerdings „ein oder zwei Raketen fehlten“.

Kerry: Ukrinische Truppen nicht in Besitz eines entsprechenden Raktensystems

Zu Russlands Vorwurf, auch die ukrainische Armee verfüge über das Raketensystem, sagte Kerry: „Wir wissen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, dass die ukrainischen Truppen zum fraglichen Zeitpunkt kein solches Raketensystem in der Nähe gehabt hätten.

Die USA verfügten zudem über abgehörte Gespräche zwischen Separatisten, die sich über das Raketensystem unterhalten und sich brüsten, ein Flugzeug in der fraglichen Gegend abgeschossen zu haben. Inzwischen habe man „die Authentizität der Stimmen dieser Separatisten überprüft“. Separatistenführer hätten zudem in sozialen Medien wie „Facebook“ den Abschuss eines Flugzeuges gefeiert und diesen Eintrag wieder entfernt, als sich herausstellte, dass ein Passagierjet getroffen worden war.

Waffen-Konvoi aus Russland in die Ost-Ukraine?

Bereits zuvor hatten die USA laut Kerry Belege gesammelt, dass Russland die Separatisten mit Waffen und schwerem Gerät ausrüste und sie in der Bedienung ausbilde. „Vor wenigen Wochen“ habe Amerika einen „Konvoi mit 150 Fahrzeugen aus Russland in die Ostukraine“ beobachtet mit „Panzern, Artillerie, Raketenwerfern, gepanzerten Mannschaftswagen“, die „an die Separatisten übergeben“ worden seien.

Alles in allem hätten die Separatisten dank russischer Unterstützung im Verlauf der jüngsten Monate „zwölf Flugzeuge, darunter zwei große Transportflugzeuge abgeschossen“. Kerry fasst zusammen: „Die Beweislast ist enorm."

Der US-Außenminister beklagt in den Interviews, dass die Separatisten die internationale Aufklärung behindern, indem sie den Zugang für die Experten begrenzen: nur „75 Minuten am Freitag, drei Stunden am Samstag“. Zugleich ließen sie aber zu, dass „betrunkene Separatisten“ Leichen stapeln, „den Tatort verändern“ und Beweismittel wie die „Black Box“ und andere Flugzeugteile „wegnehmen“.

Die Positionen Russlands

Für eine objektive und lückenlose Aufklärung des Absturzes der malaysischen Boeing 777 über der Ostukraine durch Experten der ICAO – der Internationalen Organisation für zivile Luftfahrt –, die am Montag in Kiew eintrafen, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin von Anfang an plädiert. Konkrete Taten, wie sie die internationale Gemeinschaft fordert – vor allem Druck auf die pro-russischen Separatisten auszuüben –, ließen indes auf sich warten. Doch bei jüngsten Telefonaten mit westlichen Amtskollegen signalisierte der Kremlchef Kompromissbereitschaft.

Russische Beobachter sind uneins über die Gründe. Einige glauben an die heilsame Wirkung drohender „harter“ Sanktionen, die Russlands Wirtschaft empfindlich treffen würden. Andere vermuten Druck durch die Lobby russischer Airlines, die seit Schließung des ukrainischen Luftraums herbe Verluste erleiden.

Wieder andere vermuten, Moskau sei zur Kooperation bei der Aufklärung der Boeing-Katastrophe bereit, weil weder Russland noch die Separatisten dabei etwas zu fürchten hätten. Anders die Ukraine. Deren Führung musste sich Sonntagabend vom russischen Staatsfernsehen sogar den Vorwurf gefallen lassen, angebliches Beweismaterial für die Schuld der Separatisten und ihrer Paten auf „allerhöchster Ebene“ manipuliert zu haben, darunter die digitalisierte Aufzeichnung der Gespräche der Separatisten-Kommandeure nach dem Abschuss.

Nikolai Popow, beim Inlandsgeheimdienst FSB für die Analyse von Tondokumenten zuständig, behauptet, es handle sich dabei um eine Collage aus mehreren Fragmenten, die der ukrainische Geheimdienst SBU offenbar in fliegender Hast zusammengeschustert habe. Die Sätze seien teilweise unvollständig, auch hätten die Autoren vergessen, die Marker zu löschen, die bei der Zusammenführung von Audio- oder Video-Dateien gesetzt werden, sowie die Datei-Information der Originale. Daraus gehen auch Erstelldatum und -uhrzeit bis zu Zehntelsekunden genau hervor. Einer der Schnipsel, die Popow vorzeigte, stamme vom Tag vor der Katastrophe – da hatten die Separatisten eine ukrainische Militärmaschine abgeschossen. Der SBU habe ihn jedoch so manipuliert, als ob es um die Boeing gehe.

Raketenkonstrukteur: MH17 wurde von der Ukraine abgeschossen

In der Sendung kam auch der Vize-Chefkonstrukteur des Herstellers der Raketenwerfer, Stanislaw Fjodorow, zu Wort. BukM1, sagte er, seien technisch sehr anspruchsvolle und komplexe Systeme, das Bedienpersonal – sechzehn Mann – würde sechs bis zwölf Monate intensiv geschult. Die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten begannen jedoch erst vor drei Monaten. Die Boeing sei von Kiewer Regierungstruppen abgeschossen worden, durch die Trägheit der Masse aber noch mehrere Minuten geflogen, so die Darstellung von Russlands Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow. Daher sei das Wrack auf dem von pro-russischen Milizen kontrollierten Gebiet aufgeschlagen. Und der frühere Oberkommandierende der Luftwaffe, Wladimir Michailow, fügte hinzu, eigentlich hätten die Trümmer über Russland niedergehen sollen, um „unsere Führung mit noch mehr Dreck“ bewerfen zu können. Maximal drei weitere Flugminuten, so der Vier-Sterne-General im Ruhestand, und es hätte geklappt. Er hält es auch für möglich, dass die Boeing von einer ukrainischen Luft-Luft-Rakete getroffen worden sei. Augenzeugen hätten, als sie den Motorenlärm der Boeing hörten, in großer Höhe ein weiteres Flugzeug ausgemacht.

Die Boeing war nach Erkenntnissen des russischen Generalstabs kurz vor der Katastrophe um etwa 14  km vom Kurs in Richtung der ukrainischen Buk-Stellungen entfernt, habe dann versucht, wieder die vorgesehene Flugbahn zu erreichen, das aber nicht mehr geschafft, sagte der Leiter der operativen Hauptabteilung der Behörde, Andrei Kartopolow am Montagnachmittag in Moskau der Presse. Die Gründe für die Kurskorrektur, die Malaysia seinen Worten nach bestreitet, seien bisher unklar, darüber könne nur die Auswertung der Flugschreiber Auskunft geben.  Ein russisches Radar, so der Generalstäbler weiter, habe zudem unmittelbar vor der Katastrophe im Abstand von drei bis fünf Kilometern zu der Unglücksmaschine ein ukrainisches Flugzeug registriert, wahrscheinlich ein Kampfjäger des Typs   SU-25. Dieses habe auf Aufforderungen russischer Lotsen, sich zu identifizieren, nicht reagiert und auch nicht reagieren können, weil Militärmaschinen nicht mit derartiger Technik ausgestattet sind. Moskau drängt daher auf Veröffentlichung der Aufnahmen, die ein US-Satellit gemacht hat, der zur Tatzeit das Gebiet überflog. Aus den Satelliten-Bildern, so glaubt der Generalstäbler, würde auch klar, dass es sich bei den Fotos vom angeblichen Rückzug der Buk-Raketen Richtung Russland um eine Fälschung handelt.

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