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Chavez

© dpa

Venezuela: Zwischen Sozialismus und Kriegsgetöse

Venezuelas Präsident Hugo Chávez polarisiert wie kaum ein anderer. Er unterdrückt die Opposition und beglückt die Armen. Michael Schlieben reiste drei Wochen durch ein tief gespaltenes Land.

Hugo Chávez ist überall. Schon am Internationen Flughafen Maiquetía, unweit der Hauptstadt Caracas, empfängt Venezuelas Staatschef die Touristen. Sein rundes, braunes Konterfei ziert ein riesiges Poster in der Empfangshalle. Der rechte Arm ist ausgestreckt. Der Zeigefinger zeigt stramm nach oben. Venezuela sei "frei für alle", steht da. Über der Gepäckausgabe, eine Halle weiter, wird diese Freiheit allerdings wieder eingeschränkt. "CONSTRUYENDO EL SOCIALISMUSO BOLIVARIANO", steht da in bronzenen Lettern. "Der bolivarische Sozialismus wird errichtet."

Eigentlich haben wir drei Wochen Urlaub, Verwandte haben uns eingeladen. Wir freuen uns aufs Planschen in der Karibik und aufs Wandern in den Anden. Aber um die Politik kommt man in Venezuela nicht herum.

Im Gegenteil. Chávez und sein eigenwilliges Modell des Sozialismus sind allgegenwärtig. Sein Bild hängt in allen staatlichen Gebäuden und in vielen Privathäusern. Manche Venezolaner verehren ihn wie einen Monarchen. Auf Straßen und Hauswände sind seine Parolen gesprüht: "Todos los motores a máxima revolución!" (Alle Motoren auf Revolution!) Oder: "Rumbo al socialismo!" (Voller Kurs auf den Sozialismus!"). In jedem Dorf, in jeder Stadt trifft man Menschen, die rote T-Shirts tragen oder rote Sterne an ihre Hauswand gesprüht haben – die Farben von Chávez' Bewegung. 

Genauso präsent wie die Symbole und Losungen der sozialistischen Regierungspartei ist allerdings auch die Kritik an ihr und dem Präsidenten. Egal ob man Anhänger oder Feinde von Chávez trifft, das Bedürfnis, über ihn zu reden, ist ausgeprägt.

Pablo zum Beispiel schimpft ausführlich und aufs Heftigste über die Regierung. Er sitzt am Steuer eines alten Taxis, eine Bierflasche zwischen die Beine geklemmt, nicht die erste heute, und fährt im Schneckentempo durch den Stau, der Caracas und die meisten anderen Großstädte zu fast jeder Tageszeit beherrscht. Benzin ist in dem Ölland spottbillig. Eine Tankladung kostet nicht mal zwei Euro. Dafür sind die Straßen in einem schlechten Zustand: voller Schlaglöcher und heillos verstopft.

Anfangs hatte Pablo, der Taxifahrer, große Hoffnungen in Chávez gesetzt. Er habe an den "cambio", den Wechsel, ernsthaft geglaubt, sagt er. Ihm gefiel es, wie der 1999 erstmals gewählte Präsident, die alte Elite des Landes hinwegfegte. Dass er ankündigte, die grassierende Kriminalität und Korruption zu bekämpfen. Dass er versprach, den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und "eine neue Gesellschaft" zu gründen.

Heute nennt Pablo Chávez bloß noch "el loco", den Verrückten. Seine Versprechungen hätten sich längst als "hohle Phrasen" entpuppt. Pablo schreit diesen Satz förmlich. Tatsächlich ist die Korruption unter der neuen Parteielite ebenfalls horrend. Und die Straßenkriminalität in den vergangenen zehn Jahren nicht gesunken, sondern noch gewaltig gestiegen. Caracas hat sich zur No-go-Area entwickelt, zur gefährlichsten Stadt Südamerikas. Fast alle Venezolaner raten Touristen von einem Besuch in der Landeshauptstadt ab. Jedes Wochenende werden hier zwischen 90 und 150 Menschen umgebracht.

Tausende Morde seien politisch motiviert, sagt Pablo. Überall hört man ähnliche Anschuldigungen. "Chávez will die Opposition ausschalten", sagen viele hinter vorgehaltener Hand. Als Beleg dafür dienen seine Angriffe auf kritische Medien, die er schließen ließ oder als "faschistisch" und "putschistisch"  bekämpft.

Auch das Vorgehen gegen die politische Opposition trägt autoritäre Züge. Den missliebigen Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma, entmachtete Chávez, indem er ihm das Budget kürzte und Kompetenzen entzog. Den früheren Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel, der sich kritisch von der Regierung abgesetzt hatte, nahm die Polizei in Gewahrsam. Offiziell wird beiden und weiteren führenden Oppositionspolitikern Korruption vorgeworfen. Aber das ist wohl nur ein Vorwand. Viele Regierungsgegner haben inzwischen das Land verlassen. Zehntausende flohen, weil sie in Venezuela keine Perspektive mehr sahen.

Andrés hingegen will bleiben. Er ist 19 Jahre alt. Auch er bezeichnet sich als Oppositionellen. Allerdings argumentiert er besonnener als Pablo. Seit diesem Sommer studiert Andrés Zahnmedizin. Eigentlich hätten ihn Politikwissenschaft oder Geschichte mehr interessiert. Aber da seien ihm die Professoren zu ideologisch, die einen zu linientreu, die anderen zu fundamental oppositionell. Anders als viele seiner gleichaltrigen Freunde, die nach Kanada oder Europa gegangen sind, will er nicht auswandern. Er habe dafür zu wenig Geld. Außerdem sei er treuer Venezolaner.

An Andrés' Universität in dem Studentenstädtchen Merida hängen ebenfalls mehrere Chávez-Poster. Allerdings sind es Karikaturen. Hier wird der Präsident als Gesetzesbeuger, als Gangster dargestellt. Seit Jahren sind die Studenten ein Motor der Oppositionsbewegung. Bei ihren Protesten im Frühjahr gegen das Verfassungsreferendum, das Chávez eine unbeschränkte Wiederwahl ermöglichte, setzte die Polizei Gummiknüppel und Tränengas ein. Die Chávez-treuen Zeitungen berichten davon kaum.

"Aber es sind nicht nur die Intellektuellen, die unterdrückt werden", sagt Andrés. Noch gravierender wirke sich die Unternehmerfeindlichkeit aus. Mehrere Verstaatlichungswellen erlebte Venezuela in den vergangenen Jahren und Monaten: Stahl-, Reis- und Zement-Fabriken wurden nach und nach enteignet, die Ölfirmen ohnehin. Zuletzt hatte es die Regierung auf mehrere Hotels und Kaffee-Ketten abgesehen. Ein deutscher Unternehmer erzählt, dass sich bei ihm neulich ein Kommunalpolitiker umgesehen habe. Sein Hotel könne man sich auch gut als neues Schulgebäude vorstellen, drohte man ihm.

Ein gängiger Spott in Venezuela ist, dass die Betriebe nach der Enteignung maximal noch drei bis sechs Monate funktionieren. Neue Manager werden eingesetzt, die alten, die sich auskannten, werden vertrieben. Am Ende weiß keiner mehr, wie er den Betrieb führen soll, die Produktion stockt. So war es auch bei den Energiewerken. Dort hatte die Regierung angeblich das Wahlverhalten der Mitarbeiter überprüft und alle Chávez-Gegner entlassen. Seither fällt in manchen Städten Venezuelas alle paar Stunden der Strom aus.

Manche der Vorwürfe klingen ungeheuerlich. Vermutlich stimmen sie auch nicht alle. Aber sie sind so weit verbreitet, dass man schnell feststellt: Jeder ist bereit, dem politischen Gegner das Schlimmste zuzutrauen.

Die weit verbreitete Unzufriedenheit verwundert nicht. Auf Maschinen der staatlichen Fluggesellschaft muss man zum Beispiel schon mal fünf Stunden warten, ohne irgendeine Information zu bekommen. Viele Häuser können nicht fertig gebaut werden, weil der Zement fehlt. Überall klagen Menschen, weil irgendetwas nicht funktioniert.

Sozialprogramme für die Armen

"Wenn du etwas über Chávez wissen willst, musst auch du die richten Leute fragen", sagt Toto. Er ist Fremdenführer und begleitet uns durch die venezolanischen Anden. Auch er kann von der Politik nicht lassen. Die Regierung habe schließlich auch überzeugte Anhänger, sagt er. Nur finde man die nicht bei den Reichen und Privilegierten. Wo denn? Bisher haben sich fast alle, die wir befragt haben, reichlich kritisch geäußert. Toto hebt die Hand: "Bei mir zum Beispiel."

Und dann erzählt er. Totos Eltern waren arme Bauern, sie lebten in einer entlegenen Provinz von dem, was sie selbst anbauten. Dank Chávez hätten sich ihre Lebensbedingungen um ein Vielfaches verbessert. Die Regierung kümmere sich um die Bedürftigen, nicht um die Bonzen, sagt Toto. Sie gebe ihnen Kredite, biete Schulungen an und fördere den sozialen Wohnungsbau.

Tatsächlich ermöglichte Chávez den unteren Schichten mit Hilfe der Öleinnahmen einen kostenlosen Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem. Die Alphabetisierungsquote stieg in den vergangen zehn Jahren beträchtlich, Straßen und Brücken wurden auch außerhalb der Städte gebaut. Die Sozialprogramme machen fast die Hälfte des Staatshaushalts aus.

Toto sagt, die wirklich Radikalen säßen in der Opposition. Ihnen seien die Belange der Armen egal. Früher hätten sie Geld und daher auch das Recht und die Privilegien für sich gepachtet. 80 Prozent der Studenten kamen früher von den Privatschulen. Gut, dass es nicht mehr so sei.  

Toto steuert das Auto nach Altamira, ein kleines Dschungeldorf am Fuße der Anden. Ein Haus, ganz vorn am Dorfplatz, ist mit roten Sternen besprüht. Hier wohnt Coco, 40 Jahre, ein Lebenskünstler. Eigentlich ist Coco Brasilianer, aber die Begeisterung für den Sozialismus hat ihn in den Norden Lateinamerikas getrieben. Erst ging er nach Kuba, nach Chávez' Machtübernahme kam er dann nach Venezuela.

Coco liebt britische Popmusik. Nächtelang verbringt er damit, zu Liedern von John Lennon und Elton John zu singen. In Deutschland würde man ihn vielleicht für einen späten Hippie halten. In Altamira ist er, der stramme Sozialist, ein geachteter Bürger. Er spielt mit den Schulkindern, unterhält sich mit Touristen, reinigt den Dorfplatz, scherzt mit den Jungs mit den Maschinengewehren auf der Polizeistation.

Die chávistische Revolution hat eine andere Schicht nach oben gebracht: Menschen ohne Besitz, ohne Privilegien, ohne große Bildung, die früher keine Chance hatten, wurden Teile der neuen Elite – wenn sie sich der Ideologie von Chávez anschlossen. Raul Zelik, einer der besten Venezuela-Kenner in Deutschland, hat genau dies bei seinen Besuchen am meisten fasziniert: dass die Bewegung tatsächlich "von unten" getragen wird.

Aber auch sie, die Rothemden, unterstützen nicht alles vorbehaltlos, was die Regierung plant. Die Kriegsrhetorik gegen Kolumbien zum Beispiel besorgt auch viele von ihnen. Schon im August drohte Chávez dem Nachbarland, das auf seinem Territorium Militärbasen der USA akzeptieren will, mit militärischer Gewalt. Regelmäßig schürt er die Furcht vor einem "Angriff des Imperialismus". Im Herbst reiste er nach China, Russland und Iran, um Panzer und ein paar "Raketchen" zu kaufen, wie er es verniedlichend nannte. Und um sich über Atomtechnologie zu informieren. "Wir müssen fähig sein, unser Territorium bis zum letzten Millimeter zu verteidigen", begründete er seine Einkaufstour. Notfalls werde man bei einem Angriff der USA die heimischen Ölfelder in die Luft sprengen.

Toto, den Anden-Führer, bekümmern solche martialischen Sprüche. "Mehr Diplomatie" wäre gut, sagt er. Aber die ist von Chávez nicht zu erwarten, der vor laufender Kamera schon Israels Botschafter ausgewiesen hat und in seiner eigenen TV-Show gern Volkslieder singt und zotige Witze erzählt. "Chávez spricht die Sprache der armen Bevölkerung", sagt Toto. Das sei zwar gut, weil er besser als jeder Präsident zuvor ihre Probleme verstehe. Aber außenpolitisch sei er eine große Gefahr. "Hoffentlich nehmen die Ausländer ihn nicht zu ernst", seufzt er.

Mitarbeit: Anne Grüttner

Quelle: ZEIT ONLINE

Michael Schlieben

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