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Verfassungsklage der Opposition: Warum das geheim ist, ist streng geheim

Grüne und Linke wollen die NSA-Selektorenliste und klagen in Karlsruhe. Ihr Anwalt ist jetzt Experte für zertifizierte Tresore und Kryptofaxgeräte.

Von Anna Sauerbrey

Am Mittwochvormittag um kurz nach elf Uhr trifft Wolfgang Ewer, Anwalt und Honorarprofessor aus Kiel, im Karlsruher Büro von Andreas Voßkuhle ein. Er reist mit schwerem Gepäck. Wie der Urlaub war, fragt der Anwalt den Richter und Vorsitzenden des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Dann öffnet er den Tresor, den er mitführt, ein vom Bundesinnenministerium zertifiziertes Modell. Darin hat er die Klageschrift, die er überreichen will, quer durch die Republik transportiert: Die Bundestagsfraktionen der Grünen und der Linken klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Bundesregierung, Ewer vertritt sie. Es ist eine Organklage: Die Opposition sieht die Rechte des Bundestages verletzt, weil die Regierung die "Selektorenliste", ein zentrales Dokument im NSA-BND-Spionageskandal, nicht an den NSA-Untersuchungsausschuss herausgeben will.

Der Anwalt muss die Klageschrift von Linken und Grünen persönlich im Tresor in Karlsruhe abliefern

Die Klage ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Die Sicherheitsregularien, die Wolfgang Ewer einhalten musste und am Donnerstag bei einem Gespräch mit Journalisten in Berlin schilderte, sind erheblich. Das liegt daran, dass die Bundesregierung mehrere Dokumente, auf die sich die Anklageschrift bezieht, als "streng geheim" eingestuft hat, darunter nach Angaben von Ewer auch das Geheimschutzabkommen mit den USA von 1960, das aus Sicht der Bundesregierung die hohe Einstufung erst nötig macht. Nachdem der Anwalt extra einen zertifizierten Tresor angeschafft hatte, verlangte die Bundesregierung, er müsse die Kanzleiräume 24 Stunden am Tag bewachen lassen. Da das nicht möglich gewesen sei, wurden Ewer die Dokumente, die er benötigte, schließlich in einem Raum des niedersächsischen Landesverfassungsschutzes zur Verfügung gestellt, dorthin gelangten sie per Kryptofax. "Ich saß auf einer Etage, in der es keine Namensschilder an den anderen Büros gab", berichtete Ewer. "In dem Zimmer, das ich nutzen durfte, gab es nur einen Computer, einen Schreibtisch und eine Menge Hanteln." Wollte der Anwalt die Toilette benutzen, musste er die Dokumente in einem Rucksack mitnehmen.

Die Bundesregierung macht die NSA-Selektorenliste nur der "Vertrauensperson" zugänglich

Die 159 Seiten umfassende Anklageschrift, die Grüne und Linke gestern ins Netz gestellt haben, ist entsprechend an zahlreichen Stellen geschwärzt. In Grundzügen lässt sich die Begründung dennoch nachvollziehen. Grüne und Linke wollen damit die Herausgabe der „Selektorenliste“ erzwingen, auf der sich rund 40.000 Begriffe befinden sollen, die die NSA dem BND im Zuge der gemeinsamen Telekommunikationsüberwachung in Bad Aibling untergeschoben haben soll. Sie sollen sich gegen deutsche und europäische Interessen richten. Vor der Sommerpause hatten SPD und Union sich mit der Regierung auf den Mittelweg geeinigt, die Liste vom ehemaligen Verwaltungsrichter Kurt Graulich als „Vertrauensperson“ prüfen zu lassen. Er soll seine Ergebnisse im Ausschuss am 5. November vorlegen. Die Bundesregierung begründete ihre Weigerung unter anderem mit Verweis auf ein Geheimschutzabkommen mit den Amerikanern von 1960. Dass ein solches Abkommen die Rechte des Bundestages aushebeln kann, dagegen argumentiert Ewer in seiner Klageschrift.

Die Klage braucht mindestens ein halbes Jahr

Aus Sicht von Grünen-Obmann Konstantin von Notz und der Obfrau der Linken, Martina Renner, ist das Kompromissverfahren nicht tragbar. Der Auftraggeber Graulichs sei die Bundesregierung, bei der Auswertung würden ihm Mitarbeiter des BND helfen - das sei kein unabhängiges Prüfverfahren, sagte von Notz am Donnerstag. "Wir wollen das Prä des Parlamentes zurückgewinnen", sagte Martina Renner.

Dass die Klage vor dem geplanten Auftritt Graulichs im Ausschuss im November entschieden wird, gilt als wenig wahrscheinlich. Mindestens ein halbes Jahre müsse man rechnen, hieß es. Denn das Bundesverfassungsgericht steht vor ähnliches Problemen wie der Anwalt der Kläger: Um die Anklageschrift einsehen und prüfen zu können, müssen erst mehrere Mitarbeiter die Freigabe für die Sicherheitsstufe "streng geheim" erhalten. Dazu müssen unter anderem angeführte "Referenzpersonen" persönlich befragt werden. Das dauert.

Im Ausschuss führt die Klage zu Unmut. SPD-Obmann Christian Flisek beklagte, dass die Opposition jetzt schon vor Gericht ziehe - und nicht erst die Ergebnisse von Graulichs Prüfung abwarte. Der Ausschussvorsitzende, Patrick Sensburg (CDU), sagte, er halte die Klage für zulässig, aber unbegründet. "Die Konsultationen [mit der Bundesregierung, d. Red.] sind bisher gar nicht abgeschlossen und es gibt kein "Nein", aber eben auch kein nötiges "Ja"." Der Ausschuss habe sich ja weitere Schritte vorbehalten. Tatsächlich könnte es im Verfahren problematisch werden, dass die Bundesregierung formal die Herausgabe nie verweigert hat - sondern lediglich die gesetzten Fristen verstreichen ließ.

Es hätte so einfach sein können: Ströbele hatte die Liste schon in der Hand

Dabei hätte alles so einfach sein können. Denn wie sich am vergangenen Freitag im NSA-Untersuchungsausschuss herausstellte, hatte der Grüne Hans-Christian Ströbele die Selektorenliste kurz nach deren Bekanntwerden des Verdachts der Doppelspionage im Parlamentarischen Kontrollgremium sogar schon einmal in den Händen. Den Abgeordneten sei doch damals auch ein Stapel Papier gezeigt worden, als Anschauungsmaterial, sagte der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Günter Heiß, auf die Frage, ob er die Liste denn schon einmal gesehen hab. Ströbele fragte ungläubig nach: "Ich war dabei?" Daraufhin Günter Heiß: "Sie hatten das sogar in der Hand. Und ich habe dafür gesorgt, dass das wieder eingesammelt wurde."

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