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Die rechtsextremen "Identitären" tauchen zum ersten Mal im Bericht des Verfassungsschutzes auf.

© Christian Mang, Reuters

Verfassungsschutz-Bericht: Extremistische Verhaltensweisen nehmen zu

Rechts, links, bei Islamisten, im Internet und auf der Straße: Extremistische Gesinnungen und Verhaltensweisen nehmen überall zu. Ist die Stabilität des Staates in Gefahr?

Von Frank Jansen

Die Zahl klingt überschaubar, zeigt aber bedenkliche Trends. Mehr als 116000 Extremisten tummeln sich nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) in Deutschland. In fast allen Milieus gibt es Zuwächse, auch die Orientierung in Richtung Gewalt nimmt weiter zu. Außerdem wächst die Gefahr, die von Cyberattacken russischer Nachrichtendienste ausgeht. Positive Tendenzen sucht man im Jahresbericht 2016 des BfV vergebens. Das am Dienstag von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen in Berlin vorgestellte, 335-seitige Werk, ist düsterer Lesestoff. Ein Überblick.

Cyberangriffe und Spionage

Knapp drei Monate vor der Bundestagswahl wächst die Nervosität. Nach den mutmaßlich von einem russischen Nachrichtendienst geführten Cyberattacken vor der Präsidentenwahl in den USA befürchten de Maizière und Maaßen ähnliche Angriffe auf die Bundesrepublik. „Wir stellen uns darauf ein, dass es demnächst auch Versuche in Deutschland gibt“, sagte der Minister. Im BfV-Bericht wird die Angriffskampagne „APT 28“ genannt. Das Kürzel ist ein technischer Begriff der Behörden für russische Hackergruppen. APT 28 hat laut BfV im Mai 2015 sowie im August 2016 den Bundestag attackiert. Ein Ziel war offenbar, an kompromittierende Daten von Politikern heranzukommen.

Mit dem Cyberangriff in den USA hätten mutmaßlich russische Nachrichtendienste versucht, den amerikanischen Wahlkampf zugunsten von Donald Trump zu beeinflussen, steht im Jahresbericht. Maaßen vermutet allerdings auch, die US-Demokratie an sich sollte getroffen werden. Dass ein neuer Präsident längere Zeit Schwierigkeiten hat wegen des Verdachts russischer Hilfe im Wahlkampf, schädigt das Vertrauen der US-Bürger in die Demokratie, befürchtet Maaßen.

Linksextremisten

Angesichts der befürchteten Krawalle von Linksextremisten während des G-20-Gipfels in Hamburg ist die Szene aktuell von besonderem Interesse. Die Zahl von Autonomen, Anarchisten, Marxisten-Leninisten und weiteren Linksextremen wuchs im vergangenen Jahr um 1800 Personen auf 28500. Sorgen bereite vor allem der Anstieg bei den gewaltorientierten Linksextremisten, betonten de Maizière und Maaßen. Hier registrierte das BfV eine Zunahme um 800 Personen, meist Autonome, auf 8500. Die Polizei erwartet, wie berichtet, dass die meisten der gewaltorientierten Linksextremen diese Woche nach Hamburg kommen, um mit Blockaden und Ausschreitungen den G-20-Gipfel zu stören.

Als die „derzeit erfolgreichsten Akteure“ im Spektrum der Autonomen nennt das BfV im Jahresbericht die Vereinigungen „Interventionistische Linke (IL)“ und das Bündnis „...ums Ganze!“ Vor allem die IL versucht, die Autonomen aus der politischen Isolation herauszuführen. In Hamburg ist die IL eine treibende Kraft sowohl bei den anlaufenden linksradikalen Protesten gegen den Gipfel wie bei der Vorbereitung der von mehreren, auch nicht extremistischen Organisationen initiierten Großdemonstration am Freitag, an der bis zu 100000 Menschen teilnehmen sollen.

Orthodoxe kommunistische Parteien und Vereinigungen stagnieren in der Bundesrepublik. Das betrifft die DKP (3000 Mitglieder), die maoistische MLPD (1800) sowie die meisten extremistischen Zirkel in der Linkspartei.

Zulauf hat zudem weiterhin der als parteiunabhängig und strömungsübergreifend auftretende Verein „Rote Hilfe“. Er leistet laut BfV Straftätern aus dem linksextremen Spektrum politische und finanzielle Hilfe. Der Verein wuchs um 1000 Personen auf 8000.

Rechtsextremisten und Reichsbürger

Manche Fanatiker fühlen sich vermutlich erst ernst genommen, wenn sie im Jahresbericht des Verfassungsschutzes auftauchen. Die zweifelhafte Ehre wird nun gleich zwei Milieus erstmals zuteil. Das BfV nennt jetzt auch in einem Extra-Kapitel die heterogene Szene der „Reichsbürger und Selbstverwalter“, die der Bundesrepublik das Existenzrecht abspricht und Fantasiestaaten bildet. Neu im Bericht ist zudem die „Identitäre Bewegung“, sie findet sich als „Verdachtsfall“ im Kapitel zum Rechtsextremismus.

Im Jahresbericht werden die Reichsbürger auf 10000 Personen taxiert, darunter bis zu 600 Rechtsextremisten. Doch das Spektrum wächst offenbar weiter, wie auch das Material des Nachrichtendienstes. De Maizière sprach am Dienstag von inzwischen 12800 Reichsbürgern, „davon sind 800 offen rechtsextremistisch“. Er warnte auch vor der „hohen Affinität“ der Reichsbürger zu Waffen. Im BfV-Bericht werden zwei Angriffe von Reichsbürgern mit Schusswaffen auf Polizisten genannt. Dabei starb im Oktober in Georgensmünd (Bayern) ein SEK-Beamter.

Laut BfV-Bericht verfügen Reichsbürger über etwa 700 waffenrechtliche Erlaubnisse. Einen Teil hat die Szene in diesem Jahr bereits eingebüßt. Ungefähr 100 Waffenscheine seien seit Anfang 2017 entzogen worden, sagte der Minister.

Das klassische rechtsextremistische Spektrum beunruhigt die Sicherheitsbehörden allerdings auch wegen der weiter zunehmenden Neigung zu Militanz. Deutlich mehr als die Hälfte der vom BfV festgestellten Rechtsextremisten wurden 2016 als „gewaltorientiert“ eingestuft. Das sind 12100 Neonazis und andere Rechtsextreme. Im Jahr zuvor waren es 11800. Der Zuwachs bei den Militanten ist einer der Gründe, warum laut BfV auch das gesamte „Personenpotenzial“ des Rechtsextremismus in Deutschland stieg – um 500 Leute auf 23100.

Ein weiterer Grund: Der Verfassungsschutz hat eindeutig rechtsextreme Reichsbürger, insgesamt 600, sowie die rassistische „Identitäre Bewegung Deutschland (IBD)“ mit 300 Anhängern in den Bericht aufgenommen. In ihm steht auch, wer im bräunlichen Spektrum schwächelt. Das ist vor allem die NPD. Sie zählt jetzt nur noch 5000 Mitglieder. Das sind 200 weniger als 2015. Die NPD litt vor allem unter der übermächtigen Konkurrenz der rechtspopulistischen AfD und verlor bei der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern ihre letzte Landtagsfraktion. Auch die anderen rechtsextremistischen Parteien – „Die Rechte“, „Der III. Weg“ und „Pro NRW“ – verharren auf niedrigem Niveau.

Islamisten und weitere Extremisten

Der islamistische Terror bleibe „die größte Herausforderung“ für die innere Sicherheit, betonte BfV-Chef Maaßen. Seit Anfang 2015 seien in Europa 29 Anschläge verübt worden, darunter fünf in Deutschland. Meistens von Einzeltätern wie dem Tunesier Anis Amri, der am 19. Dezember in Berlin zwölf Menschen tötete. Sieben Anschläge seien 2016 in Deutschland verhindert worden, sagte Maaßen. Und die Zahl der „Gefährdungshinweise“ aus der Bevölkerung nimmt zu. 1100 seien im vergangenen Jahr eingegangen, sagte Maaßen, „und 80 Prozent waren so valide, dass wir ihnen nachgehen mussten“. Zum Vergleich: 2013 kamen 103 Hinweise.

Offenbar ungebremst wächst zudem die Szene der Salafisten. Maaßen sprach von aktuell 10100 Personen, im Jahresbericht 2016 ist noch von 9700 die Rede. Bei den vom Verfassungsschutz als „legalistisch“ bezeichneten ist die aus mehreren Vereinigungen bestehende türkische Milli-Görüs-Bewegung mit 10000 Personen bei Weitem die größte. In einem der Vereine, der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, sieht das BfV einen „schwächer werdenden Extremismusbezug“.

Bei den ausländischen Extremisten jenseits des islamistischen Spektrums dominiert die kurdische Terrororganisation PKK. Ihr Mitgliederstamm bleibt mit 14000 Personen seit Jahren stabil. Sorgen bereitet dem Verfassungsschutz vor allem der Konflikt zwischen der PKK und den 11000 türkischen Rechtsextremisten, vor allem der „Ülkücü“-Jugendbewegung. Im BfV-Bericht werden zudem die nationalistischen Rockergruppen „Turan e.V.“ und „Turkos MC“ genannt.

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