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Politik: "Vergangenheitsbewältigung in Deutschland": Der deutsche Wunsch, Distanz zu schaffen

Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich war stets eine ebenso politisch wie moralisch geführte Debatte. Dies wurde erst unlängst wieder deutlich, als Norman Finkelstein die deutsche Öffentlichkeit mit seiner Polemik einer vermeintlichen "Holocaust-Industrie" provozierte.

Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich war stets eine ebenso politisch wie moralisch geführte Debatte. Dies wurde erst unlängst wieder deutlich, als Norman Finkelstein die deutsche Öffentlichkeit mit seiner Polemik einer vermeintlichen "Holocaust-Industrie" provozierte. Der daraufhin einsetzende Streit zeigte zugleich, dass die Geschichte der NS-Diktatur von der Geschichte der Auseinandersetzung mit jener Zeit abgekoppelt wird. Diese "zweite Geschichte des Nationalsozialismus" beschreibt der Hamburger Politikwissenschaftler Peter Reichel in seiner Studie.

Schon das Wort "Vergangenheitsbewältigung" ist schwierig: "Es tritt vieldeutig und gewichtig auf, gilt als typisch deutsch, ist kaum übersetzbar und in jedem Fall erläuterungsbedürftig." In Umlauf kam der Begriff, "als das erste Nachkriegsjahrzehnt zu Ende ging, die Zerstörungen des Krieges beseitigt und die Folgen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes bewältigt erschienen". Ohne deutliche Spuren hatten die Westdeutschen zu diesem Zeitpunkt die Versuche einer Entnazifizierung überstanden. Deren Scheitern erscheint Peter Reichel unausweichlich. Notwendig für eine Entnazifizierung wäre eine "politische Selbstreinigung der Deutschen" gewesen, die angesichts der Massenloyalität zum NS-System nicht zu erwarten gewesen sei: "Aus Millionen angepasster, mehr oder weniger mitverantwortlicher Mitläufer konnten nicht über Nacht überzeugte Demokraten werden."

So kultivierte die westdeutsche Wiederaufbaugesellschaft rasch eine "distanzschaffende Verdrängung". Diese allerdings - wie es Reichel tut - als eine "zweite Chance" zu verstehen, ist diskussionswürdig. Demnach habe sich die westdeutsche Wiederaufbaugesellschaft dank dieser Verdrängung in zahlreichen politischen Skandalen schon seit den frühen fünfziger Jahren immer wieder mit den Folgen ihrer zuvor halbherzigen oder verfehlten Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzen müssen.

Viele NS-Täter konnten jedenfalls diese Zeit nutzen, um einer Strafverfolgung zu entkommen. Diese juristische Seite jeder "Vergangenheitsbewältigung" schildert Reichel am Beispiel der Nürnberger Prozesse und des Auschwitz-Prozesses.

Doch die juristische Auseinandersetzung wirkte keinesfalls immer in einem volkspädagogischen Sinn. Schon wenige Jahre nach den Urteilen von Nürnberg war die Vorstellung weit verbreitet, die Prozesse seien ein Unrecht gewesen; Rufe "nach Gnade und Versöhnung" wurden laut. Tonangebend in der nun einsetzenden Amnestiebewegung waren übrigens die beiden Kirchen.

Zu den unterschiedlichen Facetten der "Vergangenheitsbewältigung" zählen auch die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag. Mit keinem anderen Thema habe sich das Parlament so schwer getan; doch: "Mit keinem anderen Thema hat es sich aber auch so sehr profiliert wie mit diesem." Reichel erinnert an eine solche "Sternstunde" im Jahr 1965 mit den Reden von Adolf Arndt (SPD), Ernst Benda (CDU) und Thomas Dehler (FDP). Überdies hält er in seinem Abschnitt über die Entschädigung der Zwangsarbeiter ein Lob für die Grünen bereit: Mit ihrem Auftreten sei nicht nur ein neuer politischer Akteur in Erscheinung getreten. Mit ihnen habe sich auch "die Wahrnehmung des nationalsozialistischen Unrechts erweitert". Zwangsarbeit sei endlich als das benannt worden, was es immer war: als Unrecht.

Skeptisch äußert sich Reichel gleichwohl über den derzeitigen Umgang mit den Verbrechen der NS-Zeit. Voller Sorge diagnostiziert er eine "Amerikanisierung des Holocaust" und die Tendenz, dass der Nationalsozialismus "aus der deutschen Geschichte herausgelöst wird" - zu Recht warnt Reichel vor dieser Dekontextualisierung. Angesichts der vermeintlichen Globalisierung und Kommerzialisierung einer mit der Metapher "Auschwitz" operierenden Erinnerungs- und Gedenk-Kultur könne sogar eines Tages in Vergessenheit geraten, "was Auschwitz zu einem deutschen Erinnerungsort macht".

Dieser Hinweis verdient Beachtung. Schließlich hat seit rund zehn Jahren eine Erinnerungskultur in Deutschland Konjunktur, die zuweilen weniger Wert auf die tatsächlichen Geschehnisse der Vergangenheit legt als vielmehr auf die Mechanismen, nach denen das kollektive Gedächtnis funktioniert. Die Herausforderungen einer solchen Erinnerungskultur dürften wohl das Nächste Kapitel der "Vergangenheitsbewältigung in Deutschland" eröffnen, dessen Ausgang höchst ungewiss ist.

Tillmann Bendikowski

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