zum Hauptinhalt

Politik: Vermutlich 700 000 Zwangsarbeiter in Berlin - morgen veröffentlicht das American Jewish Committee seine Firmenliste

Das American Jewish Committee (AJC) veröffentlicht morgen, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, eine Liste von Berliner Firmen, die während der Nazi-Zeit Zwangsarbeiter beschäftigt haben. Erarbeitet wurde sie im Auftrag des AJC von der Berliner Geschichtswerkstatt.

Das American Jewish Committee (AJC) veröffentlicht morgen, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, eine Liste von Berliner Firmen, die während der Nazi-Zeit Zwangsarbeiter beschäftigt haben. Erarbeitet wurde sie im Auftrag des AJC von der Berliner Geschichtswerkstatt. Mit der Veröffentlichung will der AJC den Druck auf die Unternehmen erhöhen, der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeiter beizutreten. Vorab hat der Tagesspiegel bei einigen Berliner Betrieben recherchiert, wie sie auf die Frage der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter vorbereitet sind.

Das Unternehmen, das in Berlin die meisten Zwangsarbeiter beschäftigt hat, war Siemens. In den damaligen Unternehmen Siemens&Halske und Siemens-Schuckertwerke waren bis 1945 etwa 50 000 Arbeitskräfte zwangsweise beschäftigt. Nach Statistiken, die der Berliner Historiker Laurenz Demps 1986 in Ost-Berlin veröffentlichte, waren beispielsweise im Oktober 1942 bei Siemens&Halske bei einer Gesamtzahl der Beschäftigten von 38 900 rund 7900 ausländische Zwangsarbeiter und 1400 jüdische Zwangsarbeiter tätig. Die Siemens AG gehöre zu den Gründungsmitgliedern der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, sagt Firmen-Sprecher Rolf Huber in der Münchener Zentrale. Siemens habe in den 60-er Jahren begonnen, Zwangsarbeiter mit Zahlungen an die Jewish Claims Conference zu entschädigen. Im Herbst 1998 sei der firmeneigene Entschädigungs-Fonds mit einer Summe von 20 Millionen Mark ins Leben gerufen worden. Daraus habe Siemens bislang etwa 1500 ehemalige Siemens-Zwangsarbeiter in osteuropäischen Ländern wie Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei mit jeweils 10 000 Mark entschädigt.

700 000 Zwangsarbeiter soll es insgesamt in Berlin gegeben haben. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert sagt: "Als größte Industrie- und Rüstungsstadt in Deutschland hatte Berlin eine erhebliche Zahl von Zwangsarbeitern."

Andere Historiker sprechen auch von der "Vorreiterrolle" Berlins. Bereits 1938, nach dem "Anschluss" Österreichs und nach der Besetzung des Sudetengebietes, wurden Österreicher und Tschechen zum Bau der "Welthauptstadt" Germania nach Berlin verschleppt. Sie mussten in Baugruppen des "Generalbaudirektors" Albert Speer arbeiten. Für Historiker Laurenz Demps (Humboldt-Universität) ist es "schandbar, dass bislang nur drei Berliner Betriebe der Stiftungsinitiative beigetreten sind" - selbst wenn man berücksichtige, dass mit Siemens einer der ehemals größten Berliner Konzerne sich daran beteilige.

Die Berliner Industrie- und Handelskammer hatte ihre Mitgliederbetriebe schon im Dezember vergangenen Jahres aufgerufen, der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft beizutreten. Die Resonanz darauf sei allerdings zurückhaltend gewesen, sagt IHK-Sprecher Egbert Steinke. Viele Firmen seien an einem Beitritt interessiert, müssten aber zunächst erkunden, ob und wieviele Zwangsarbeiter bei ihnen oder ihren Vorgängerfirmen beschäftigt waren.

Mitglied der Stiftungsinitiative ist neben Siemens auch der Berliner Pharma-Konzern Schering. "Aus moralischen und solidarischen Gründen beigetreten" sei das Unternehmen, sagt Firmen-Historiker Gert Wlasich, "obwohl bei Schering im II. Weltkrieg nur sehr wenige Zwangsarbeiter beschäftigt waren." In den chemisch-pharmazeutischen Betrieben der Schering AG hätten nie mehr als 400 Zwangsarbeiter gleichzeitig gearbeitet. Insgesamt seien es "unter 1000" gewesen. Sie stammten vorwiegend aus Osteuropa und auch aus Holland, Belgien und Italien. Außerdem wurden "insgesamt 99 jüdische Bürger Berlins eingesetzt".

Die Arbeitskräfte seien "im Rahmen der Möglichkeiten besser als Zwangsarbeiter in anderen Betrieben behandelt worden", sagt Wlasich. So hätten Vorgesetzte behördliche Anordnungen ignoriert, nach denen Zwangsarbeiter keine zusätzlichen Lebensmittelkarten bekommen durften. Sonntagsarbeit sei im Werk Spindlersfeld mit Ausgleichstagen vergolten worden.

Andere Firmen sind noch auf der Suche nach Historikern, die die Zwangsarbeiter-Beschäftigung aufarbeiten könnten. Die Bewag ist - neben der Bankgesellschaft Berlin als dritter Berliner Betrieb - im Dezember 1999 der Stiftungsinitiative beigetreten, ohne genau zu wissen, wieviele Zwangsarbeiter in den 40er Jahren bei dem Energiebetrieb beschäftigt waren. "Nach einer ersten oberflächlichen Auswertung der Archivbestände" müssten es "unter 100, wenn nicht unter 50 Zwangsarbeiter" gewesen sein, sagt Firmensprecher Siegfried Knopf. Dass es - nach einer Liste der Berliner Geschichtswerkstatt - ein Lager für Zwangsarbeiter der Bewag gegeben haben soll, sei dem Unternehmen bislang nicht bekannt.

Bei der BVG, die nach Auskunft der Berliner Geschichtswerkstatt sechs Lager für zwangsverpflichtete ausländische Arbeitskräfte unterhielt, wurde im Dezember 1999 recherchiert, "aber nichts gefunden". BVG-Sprecher Klaus Wazlak sagt: "Ein Großteil der Akten wurde in den letzten Kriegstagen zerstört." Bislang könne man sich nur auf Recherchen stützen, die für eine Ausstellung im Museum für Verkehr und Technik gemacht wurden. Danach "existierten Baupläne für ein am Standort Wedding geplantes Kriegsgefangenenlager", und es seien der BVG vom Reichsverkehrsminister einmal 6000 italienische Militärinternierte in Aussicht gestellt worden.

Von den Erkenntnissen der Geschichtswerkstatt wusste auch der BVG-Sprecher bislang nichts. Weitere Forschungsarbeiten wolle man unterstützen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false